10. Sept. 2017 · 
Inneres

Schwerer Koalitionskrach: SPD will eine Zuzugssperre für Flüchtlinge, Grüne empört

In der Flüchtlingspolitik gärt fünf Wochen vor der Landtagswahl ein heftiger Streit zwischen Sozialdemokraten und Grünen. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat am Freitag angekündigt, dass das Innenministerium in den nächsten Wochen einen Erlass beschließen wird, der eine Zuzugssperre für Flüchtlinge in die Stadt Salzgitter vorsieht. Jeder Zuwanderer, der anerkannt ist und hier bleiben darf, soll zunächst zwei Jahre lang nicht in Salzgitter heimisch werden können. „Damit betreten wir Neuland, das ist uns bewusst. Aber im Kabinett waren wir uns einig, dass dies keine Entscheidung der Landesregierung war, sondern lediglich von drei Ressort – Staatskanzlei, Innen- und Finanzministerium“, erklärte der Ministerpräsident. Die Landtagsfraktion der Grünen hat sich vehement von dieser Linie distanziert. „Die Einführung einer Zuzugssperre ist ein herber Rückschlag für die menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik in Niedersachsen. Die Umsetzung führt zu einem unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand und stigmatisiert geflüchtete Menschen“, erklärte der kommunalpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Belit Onay. Schon seit Jahresanfang wird in der Landesregierung geprüft, wie eine „negative Wohnsitzauflage“ gestaltet werden kann. Die Stadt Salzgitter hatte darum gebeten, denn sie ist bundesweit unter anerkannten Flüchtlingen vor allem aus Syrien sehr begehrt. Auf 106.000 Einwohner kommen 5700 bereits anerkannte Flüchtlinge, von denen 91 Prozent einen Anspruch auf Sozialhilfe haben. Die Attraktivität Salzgitters für Zuwanderer liege auch daran, dass 3000 leere, teilweise jedoch geringwertige Wohnungen bereitstehen. „Die Stimmung ist gegenüber Flüchtlingen bisher wohlgesonnen in der Stadt“, sagt Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU). Da aber in manchen Kindergärten bis zu 80 Prozent Flüchtlingskinder betreut werden, hätten manche Eltern schon gesagt, sie wollten wegziehen. In Salzgitter liegt der Anteil arbeitssuchender Flüchtlinge bei 1,8 Prozent der Bevölkerung, im Landesschnitt sind es 0,6 Prozent. Auch Delmenhorst (1,4 Prozent) und Wilhelmshaven (1,3 Prozent) fallen aus der Reihe. Nach den Worten von Weil wird den drei kreisfreien Städten zunächst mit einem 20-Millionen-Euro-Zuschuss aus dem Landestopf für Integrationshilfen geholfen, Salzgitter erhält elf Millionen, Wilhelmshaven fünf und Delmenhorst vier Millionen. In Salzgitter reicht das Geld, um neue Krippen und Kindergärten zu bauen, nicht aber für den jährlichen Mehraufwand in diesem Bereich. In Wilhelmshaven stehen derzeit 150 freie Kindergartenplätze 600 Kindern gegenüber, außerdem nützten die Sprachkurse vielen Flüchtlingen nichts, weil sie erst einmal Lesen lernen müssten, sagte Stadtrat Jens Stoffers. Nach den Worten von Axel Jahnz (SPD), Oberbürgermeister von Delmenhorst, gerät seine Stadt jetzt „an eine Leistungsgrenze“. Während die beiden Städte im Norden bisher keine „Wohnsitzauflage“ beantragt haben, gilt das für Salzgitter schon. Ministerpräsident Weil sagte: „Die Stadt braucht eine Atempause, die werden wir ihr geben.“ Zu der Frage nach der Haltung des Koalitionspartners sagte er: „Wir haben das ausdiskutiert und die Entscheidung ist gefallen, das sagt alles.“ Die Jugendorganisation der Grünen forderte die SPD auf, „diesen inakzeptablen Vorschlag sofort zurückzuziehen“. In Bayern, Baden-Württemberg und Hessen gibt es bereits Wohnsitzauflagen für Flüchtlinge – allerdings auf eine andere Art. Dort wird ihnen, sobald sie anerkannt sind, ein bestimmter Wohnort zugewiesen. Das ist rechtlich schwierig, da der entsprechende Passus im Aufenthaltsgesetz vorsieht, dass die Auflage dem Flüchtling die Wohnsitzwahl, den Spracherwerb und die Arbeitsplatzchance erleichtern soll. Wenn ein Betroffener nachweist, dass ihm woanders bessere Bedingungen blühen könnten, kann er vor Gericht mit Erfolg dagegen angehen. Die jetzt in Niedersachsen erstmals angewandte „negative Wohnsitzauflage“ funktioniert anders. Sie geht von der Voraussetzung aus, dass ihm in Salzgitter „soziale und gesellschaftliche Ausgrenzung“ drohen könnten – und er vor allem keine Chance habe, unter den aktuellen Umständen dort die deutsche Sprache zu lernen. Die Experten im Innenministerium meinen, für diese Befürchtung gerichtsfeste Belege zu haben, sodass die Zuzugssperre juristisch wasserfest sei.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #157.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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