Darum geht es: Mit einer Aktionswoche geht die Gewerkschaft Verdi auf Mitgliedersuche. Vor allem viele Jüngere halten Gewerkschaften inzwischen für überflüssig. Ein Kommentar von Martin Brüning.

Die Kurven zeigen nach unten. Egal, ob man sich die Entwicklung der Mitgliederzahlen der im Bundestag vertretenen Parteien oder die der Gewerkschaften näher ansieht. Im Jahr 2005 hatten die DGB-Gewerkschaften noch fast 6,8 Millionen Mitglieder, zehn Jahre später waren es nur noch knapp 6,1 Millionen. Bei den Parteien ist die Erosion noch dramatischer. Lag die Mitgliederzahl der SPD im Jahr 1990 noch fast an der Millionenmarke, ist inzwischen nicht einmal mehr die Hälfte davon übrig.

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Das mag zum einen an der sogenannten Generation Bindungsangst liegen. Eine Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaft und damit auch eine Festlegung oftmals auf Jahrzehnte erscheint vielen heute undenkbar, wo doch jedes Newsletter- oder Netflix-Abonnement im One-Klick-Verfahren von jetzt auf gleich abzuschließen und natürlich auch sofort oder monatlich kündbar ist. Manch einer kündigt ja sogar langjährige Beziehungen inzwischen per What’s App-Nachricht. Diese Bindungsleichtigkeit liegt nicht in der Natur von Parteien und Gewerkschaften, und dadurch wirken sie manchmal wie etwas aus der Zeit gefallen.

Der beschriebene Anachronismus ist der zweite Grund für die gesunkene Bereitschaft, den Mitgliedsantrag zu unterschreiben. Formalisierte Ortsvorstandssitzungen bei Parteien mit Teilnehmern, die in der Mehrheit schon das Rentenalter erreicht haben und in denen das Senioritätsprinzip vorherrscht, wirken auf junge, frische Interessierte oftmals wenig anziehend. Da hilft auch nicht die Schnuppermitgliedschaft, wenn das Angebot nicht stimmt. Und bei den Gewerkschaften erinnern sowohl Strukturen als auch Funktionäre oftmals an längst vergangene Zeiten, in denen über den Tarifverhandlungstischen noch die Rauchschwaden der Zigarren und Zigaretten hingen. Flexible junge Menschen in einer jungen, digitalen Welt auf der einen und Parteien sowie Gewerkschaften auf der anderen Seite: das will beides nicht mehr so richtig zueinander passen.

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Die Gewerkschaft Verdi macht mit ihrer Aktionswoche einen Schritt in die richtige Richtung. Dabei geht es in erster Linie darum, jungen Menschen in den Betrieben überhaupt zu erklären, wie das mit den Tarifverhandlungen funktioniert und warum die Streikkasse aus Sicht der Betroffenen im Extremfall gut gefüllt sein sollte. Dieses Basiswissen ist oftmals nicht mehr vorhanden, weil es eben nicht wie früher von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Allein die Informationen über Vorteile einer Mitgliedschaft werden aber nicht reichen. Die Gewerkschaften werden ihr Angebot überdenken und gegebenenfalls anpassen müssen. Das kann von einer verbesserten rechtlichen Beratung bis hin zu mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und Seminaren für Mitglieder reichen. Allein mit dem Gewerkschaftswörterbuch vergangener Jahrzehnte von A wie Aktivitäten bis T wie Tarifverhandlungen wird es nicht getan sein.

Und die Parteien? Noch immer dominieren Frontalfotos von mehr oder weniger unbekannten Politikern mit langweiligen bis nichtssagenden Aussagen die sozialen Medien. Bei Veranstaltungen wird Rede für Rede natürlich hinter einem Rednerpult abgespult und als erstes natürlich der Herr Staatssekretär begrüßt. Das grauhaarige Publikum spendet an den richtigen Stellen höflichen Applaus. Für diese Art der gepflegte Langeweile schließt niemand ein Langzeit-Abo ab. Wo sind sie, die jungen Wilden, die Parteien und Gewerkschaften wieder en vogue machen?

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