Der Bundestag steht in seiner neuen Legislaturperiode vor einer Mammutaufgabe: Für den Klimaschutz soll der Ausstieg aus der Kohlekraft beschleunigt werden – und gleichzeitig muss schnell eine verlässliche neue Energiequelle her. Soll nun zur Unterstützung der Erneuerbaren Energie noch die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert werden? In anderen Ländern ist man dafür längst aufgeschlossen. Die Rundblick-Redaktion streitet in einem Pro und Contra über das Thema.

Das Atomkraftwerk Grohnde / Foto: GettyImages-Relax

Pro

Um die Klimawende zu meistern, wird vor allem eines benötigt: umweltfreundliche Elektrizität. Denn jede Energie, die bislang aus fossilen Brennstoffen gewonnen wurde, muss durch grünen Strom ersetzt werden. Bislang macht es den Eindruck, dass die Bundesregierung die Zahlen schöngerechnet hat, um den impulsiven Atomausstieg nicht zu gefährden. Wenn man aber sachlich bleibt, war der deutsche Abschied von der Kernenergie vorschnell, meint Christian Wilhelm Link.

Chef-Redakteur Neue Medien Christian Wilhelm Link | Foto: Tomas Lada

Atomstrom gibt es weiterhin: Die Atomkraft ist längst noch nicht am Ende. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sind weltweit derzeit 442 Kernkraftwerke in Betrieb, 52 weitere befinden sich in Konstruktion. China (13), Indien (7) und Südkorea (4) führen den Bauboom an. Die Stilllegung der sechs deutschen Reaktoren wird an der Gesamtmenge des Atomstroms daher kaum etwas ändern. Auch die Bedrohung durch einen Super-GAU wird nicht geringer, weil andere europäische Staaten weiterhin auf Atomkraft setzen. Der Atomausstieg der Bundesrepublik ist eher Symbolpolitik – und keine sehr erfolgreiche. Bislang macht es nicht den Eindruck, dass sich davon auch nur ein anderes Land beeindrucken lässt. Stattdessen gibt es viel internationale Kritik. Langfristig wäre es klüger gewesen, dass die Bundesrepublik als Hochtechnologieland bei der Verbesserung der Nukleartechnik vorne mit vorangeht, anstatt ihr den Rücken zu kehren.

Stör- und Unfälle werden dank dem Fortschritt unwahrscheinlicher

Atomstrom wird (noch) sicherer: Die Atomkatastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) haben mehr als deutlich gemacht, wie gefährlich die vermeintlich sichere Kerntechnik ist. Allerdings sorgt der Fortschritt auch dazu, dass Stör- und Unfälle immer unwahrscheinlicher werden. Bill Gates verriet jüngst in einem Handelsblatt-Interview, dass ein von ihm finanziertes Unternehmen derzeit einen Reaktor der vierten Generation baut. „Ein erstes Probekraftwerk wird derzeit in den USA gebaut und in den kommenden fünf Jahren fertiggestellt“, sagte Gates. Der Trend geht weltweit auch zu Mini-Reaktoren, sogenannte Small Modular Reactors (SMR). Sie sollen nach einer Art Baukastenprinzip gebaut werden, was die Kosten auf nur eine Milliarde Euro drücken soll. Die Leistung würde mit 300 Megawatt etwa das Zehntel eines großen Atomkraftwerks betragen. Laut Stefano Monti, Entwicklungschef der Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), könnten die SMRs sogar eine „Schlüsselrolle bei der sauberen Energiewende spielen“, weil sie effizient, flexibel und wirtschaftlich sind.

Atomstrom ist wieder populär: Die Diskussion über den deutschen Atomausstieg ist längst nicht abgeschlossen. Nach dem Super-Gau in Japan stimmten 2012 laut einer Allensbach-Umfrage noch 73 Prozent der Deutschen für den Atomausstieg. Nun hat das Umfrage-Institut Yougov herausgefunden, dass aktuell 50 Prozent der Bundesbürger „auf jeden Fall“ oder „eher“ für eine spätere Stilllegung der deutschen Atommeiler plädieren. 44 Prozent würden sogar den Bau neuer Kernkraftwerke begrüßen – sofern damit die Verringerung der CO2-Emissionen etwas kostengünstiger erreicht wird. Eine neue Bundesregierung könnte deswegen durchaus die deutsche Atomstrategie überarbeiten, ohne Vertrauen zu verspielen. „Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden“, sagte einmal Konrad Adenauer, nachdem er seine Meinung zur Wiederbewaffnung Deutschlands geändert hatte. Auch Schweden hatte 1980 schon den Atomausstieg bis 2010 beschlossen. Heute sind dort immer noch sechs Reaktoren am Netz, ohne dass der Ruf Schwedens als Musterland der Energiewende davon Schaden genommen hätte.

„Die Atomkraftwerke dieser Erde produzieren zusammen 2553,2 Terrawattstunden (TWh) an Strom. Damit könnte man ganz Deutschland fünf Jahre lang mit Elektrizität versorgen.“

Christian Wilhelm Link, Rundblick-Chefredakteur

Atomstrom ist schnell verfügbar: Die Atomkraftwerke dieser Erde produzieren zusammen 2553,2 Terrawattstunden (TWh) an Strom. Damit könnte man ganz Deutschland fünf Jahre lang mit Elektrizität versorgen – zumindest dann, wenn der Stromverbrauch nicht rapide steigt. Und davon ist auszugehen. Klar, theoretisch können auch die erneuerbaren Energien den zusätzlichen Bedarf decken. Doch reicht das Tempo aus, mit dem neue Windkraftanlagen, Biomassekraftwerke und Solarparks gebaut werden? Bislang ist Deutschland bei der Stromwende ganz gut dabei. Doch jetzt kommt der schwierigere Teil und da klafft in den ersten Prognosen für 2030 schon eine große Versorgungslücke auf. Statt 65 Prozent des deutschen Bruttostromverbrauchs werden die erneuerbaren Energien vielleicht nur 55 Prozent ausmachen. Eine Analyse des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) Köln zeigte im April auf, dass vermutlich 68 TWh fehlen. Das liegt nur etwas über der jährlichen Stromerzeugung der deutschen Kernkraftwerke (64 TWh).

Auf dem Weg zur Klimaneutralität 2050 wird noch viel, viel mehr Strom benötigt wird. Das Bundesumweltamt hat ausgerechnet, dass die irgendwann 45 Millionen deutschen Elektroautos einen jährlichen Strombedarf von 90 TWh haben werden. Zudem steigt der Stromverbrauch von elektrischen Wärmepumpen, die beim Heizen die fossilen Brennstoffe ablösen sollen. Davon gibt es in den deutschen Haushalten etwa eine Million, doch diese Zahl soll sich bis 2035 mindestens verfünffachen. Der Strombedarf dahinter: 232 TWh. Und dann werden auch noch riesige Mengen grüner Wasserstoff benötigt, für deren Produktion bis 2030 bislang aber nur 14 TWh veranschlagt werden. Die Strategie der Bundesregierung setzt zu 90 Prozent auf Importe – ohne zu wissen, wo die eigentlich herkommen sollen. Dabei wäre es fatal, wenn Deutschland hier nicht selbst mehr produziert, denn CO2-freie Stromproduktion, etwa durch Wasserstoff, wird bei der Klimaneutralität eine riesige Rolle spielen.

Das kleinere Übel: Die Atommüllproblematik ist zwar weiterhin eine Riesenproblem, für das sich auch zukünftig keine zufriedenstellende Lösung abzeichnet. Aber jetzt drängt erstmal die Aufgabe, überhaupt das Klima zu retten. Natürlich wäre eine 360-Grad-Wende beim Atomausstieg kein Ruhmesblatt für die deutsche Politik. Ein Verfehlen der Klimaziele wäre aber um einiges schlimmer. Und wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien tatsächlich so gut funktioniert, wie erhofft, kann man immer noch den Atomausstieg durchsetzen. Bis dahin sollte aber zumindest eine Laufzeitverlängerung für die verbliebenen Reaktoren ergebnisoffen geprüft werden.

Contra

Würde die Ampel-Koalition die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke beschließen, um damit die Klimaziele zu erreichen, wäre wenig gewonnen aber viel verloren – besonders Vertrauen. Darüber hinaus erweckt die Kernkraft nur oberflächlich den Anschein, günstiger und klimafreundlicher zu sein. Bei ehrlicher Betrachtung ist sie eigentlich ziemlich teuer, meint Rundblick-Redakteur Niklas Kleinwächter.

Wenn stimmt, was gern behauptet wird, und Olaf Scholz so etwas wie ein zweiter Typ von der Art Angela Merkels ist, dann wäre nur folgerichtig, dass auch er eine atomenergiepolitische Superwende hinlegt. Genau so, wie Merkel 2011 nach dem verheerenden Reaktorunglück von Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen und verkündet hat (nach einem zuvor angepeilten Ausstieg aus dem Ausstieg), so kann Scholz nun die klimapolitisch begründete Wende hinlegen und dieser Ausstiegsserie noch einen weiteren Ausstieg hinzufügen. Allein diese Aneinanderreihung macht schon deutlich, wie albern ein solcher Schritt aussehen würde. Doch ob etwas albern wirkt oder nicht, sollte in der Politik nicht zwangsläufig der Maßstab sein. Man kann seine Meinung ja ändern, wenn sich die Umstände geändert haben. Und schließlich haben sich die Umstände ja geändert: Inzwischen ist der Klimaschutz für viele zur Maxime geworden, denn, so der Leitspruch: Ohne Klimaschutz ist alles nichts.

Ein anderes Argument auf der Meta-Ebene spricht allerdings sehr wohl gegen einen Rückzieher beim Atomausstieg: Die Politik würde erneut Vertrauen verspielen, weil sie damit deutlich machte, dass ihre Entscheidungen im Großen und Ganzen nicht verlässlich sind. Dabei ist Verlässlichkeit eine wichtige Tugend – und eben auch eine Währung, die unser auf Verträgen und Vertrauen beruhendes westlich Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zusammenhält. Planbarkeit ist wichtig. Mit einer Absage an den Atomausstieg machte sich die neue Bundesregierung direkt auch etwas unglaubwürdig, haben doch gerade SPD und Grüne den Atomausstieg stets befürwortet. Hinzu kommt: Wer Verträge bricht, muss dafür blechen. So haben sich die Energiekonzerne den erneuten Richtungswechsel von 2011 natürlich auch gut entlohnen lassen. Würde man nun erneut umschwenken und die Meiler länger am Netz halten, könnten die Betreiber zurecht wieder am Kanzleramt anklopfen und die Hand aufhalten. Auf der anderen Seite des Tisches würden im Übrigen wohl auch diejenigen, die den Ausbau der Erneuerbaren vorantreiben, empört aufstampfen und den Politikern einen Vogel zeigen – denn wo bleiben da die politische Marschrichtung und der solide Plan?

Atomenergie wird auf lange Sicht keine kostengünstige Alternative sein

Stimmen nun laut einer YouGov-Erhebung wieder 50 Prozent der Befragten für den Weiterbetrieb der Atommeiler auch über den geplanten finalen Ausstiegstermin Ende 2022 hinaus, tun sie dies ja nur unter zwei Prämissen: Der Strom muss günstiger sein als Strom aus den Erneuerbaren – und klimaschonender als Kohlestrom. Zweifel daran sind bei einer genaueren Betrachtung aber angebracht.

Zunächst zum Preis: Zum einen würden die Kosten für den Vertragsbruch anfallen, wie oben beschrieben. Aber ist das vielleicht zu rechtfertigen, wenn man dafür die Energiekosten wieder senken könnte? Schließlich sind es die derzeit steigenden und durch die Klimapolitik der Ampelkoalition auch künftig noch weiter in die Höhe schnellenden Kosten für Bevölkerung und Wirtschaft, die die aktuelle Debatte um die Laufzeitverlängerung befeuern. Ich meine jedoch: Bei einer ehrlichen Betrachtung wird auch die Atomenergie keine kostengünstige Alternative sein. Zum einen ist die Kernkraft schon immer ein massiv staatlich subventionierter Sektor gewesen. Das ging los bei der Forschung in den 1950er Jahren und setzte sich beim Betrieb der Anlagen fort, etwa durch Steuererleichterungen oder unrealistische Versicherungsbeiträge. Die staatliche Subventionierung setzt sich aber auch noch in der Zukunft fort: Mit viel Geld und Aufwand sucht die Bundesrepublik gerade nach einem geeigneten Standort für ein Endlager für hochradioaktiven Müll. Und auch bei der Zwischen- und Endlagerung für mittel- und schwachradioaktive Abfälle entstehen horrende Kosten – und zwar über Jahrhunderte. Neben dem allgemeinen Sicherheitsrisiko, das neben den Anlagen vor allem von den Atommüll-Lagern ausgeht, kommt dann noch die wachsende Gefahr etwa durch terroristische Anschläge auf diese Standorte hinzu. Verschiedene Szenarien werden regelmäßig von Sicherheitsexperten durchgespielt. Man sollte nicht den gleichen Fehler machen wie bei der Pandemievorsorge und die Gefahr so lange kleinreden oder ignorieren, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Rechnet man diese Summen zusammen, kann Kernenergie wohl kaum wirklich günstiger sein als der massive Ausbau der Erneuerbaren.

„Die CO2-Bilanz durch die Aufbereitung der Brennstäbe oder die enormen Klimaschäden durch den Uranabbau werden schnell vergessen.“

Niklas Kleinwächter

Und nun zum Klimaschutz: Im vergangenen Jahr sorgte die „Fridays for Future“-Vordenkerin Greta Thunberg für Irritationen, weil sie mit einem Facebook-Posting den Eindruck erweckt hatte, sie könne sich Kernkraft als geeignete, klimaschonende Übergangstechnologie vorstellen. Schnell ruderte sie dann zurück und korrigierte: „Persönlich bin ich gegen Atomkraft. Aber laut dem IPCC kann sie ein kleiner Teil einer sehr großen neuen kohlenstofffreien Energielösung sein.“ Ja, natürlich: Atomstrom ist klimafreundlicher als Kohlestrom – aber auf keinen Fall besser als Strom aus Erneuerbaren. Die CO2-Bilanz durch die Aufbereitung der Brennstäbe oder die enormen Klimaschäden durch den Uranabbau werden schnell vergessen. Außerdem ist auch die Menge Uran begrenzt – es wird maximal noch 60, vielleicht aber auch nur noch 30 Jahre ausreichen.

Zu guter Letzt: Eine wichtige Rolle bei dem Mammutprojekt der Energiewende spielt nun auch die normative Kraft des Faktischen. Der Ausstieg ist beschlossen, jetzt muss es gelingen. Das erzeugt Druck an vielen Stellen, vor allem beim Ausbau der Erneuerbaren oder bei der Forschung zu Speichertechnologien. Dieser Druck ist dringend geboten, denn er sollte alsbald die Politik einmal dazu bewegen, den Vorrang von Bauvorhaben im Sektor der Erneuerbaren gegenüber beispielsweise naturschutzrechtlichen Bedenken festzulegen. Das Tempo, in dem die Windkraft ausgebaut wird, ist geradezu peinlich. Nimmt man den Druck nun an einer Stelle weg, sorgt das im Gesamtkonstrukt vor allem für noch mehr Behäbigkeit. Was gebraucht wird, um diesen Weg nun entschieden weiterzugehen, sind derweil Mut und Entschlossenheit. Und auch politische Stärke, um der Bevölkerung klarzumachen, dass man nicht alles zugleich haben kann – nicht jeder Zielkonflikt lässt sich auflösen. Das muss auch der Wähler einmal begreifen, auch wenn es wehtut und am Ende womöglich Verzicht bedeuten kann.