Neidisch blicken viele niedersächsische Industrielle nach Salzgitter: Der gleichnamige Konzern wird ab 2026 „grünen“ Stahl herstellen und kann dafür laut CEO Gunnar Groebler auch „Premium-Preise“ bei seinen Kunden abrufen. Jenseits der Stahlbranche tendiert die Bereitschaft, für klimaneutrale Vorprodukte mehr Geld auf den Tisch zu legen, jedoch eher gegen Null. „Wenn es darum geht, Geld mit Nachhaltigkeit zu verdienen, kommen wir in einen sehr kleinen Kundenkreis“, verriet Contitech-Manager Claus Peter Spille bei einer Veranstaltung des Industrie-Clubs Hannover.

Der Mittelständler Moritz von Soden, Geschäftsführer von Bornemann-Gewindetechnik aus Delligsen (Kreis Holzminden), wurde noch deutlicher: „Zertifizierte Nachhaltigkeit ist ziemlicher Firlefanz. Dadurch entstehen viel Aufwand und hohe Kosten, die ich aber keinem Kunden in Rechnung stellen kann.“ Als Chef eines in der Region verankerten Familienunternehmens hält er die von der EU verordnete ESG-Berichtspflicht zu Nachhaltigkeitskriterien für überflüssig. „Wir haben uns schon immer um nachhaltige Themen gekümmert, weil ich die Firma für die nächste Generation fit machen muss“, sagte von Soden.
In manchen Branchen kann sich ökologische Nachhaltigkeit allerdings auch finanziell auszahlen. Prof. Julia Arlinghaus vom Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF) nannte hier als Beispiel die Möbeltischlerei Arte Möbel aus Magdeburg. Die Manufaktur für hochwertige Holzmöbel hatte nach einem Weg gesucht, um dem Ziel einer Netto-Nullenergiefabrik näher zu kommen. Die Fraunhofer-Experten führten daraufhin ein simples Ampelsystem ein, das den Mitarbeitern anzeigt, welche Maschine gerade mit Ökostrom betrieben wird und vorrangig genutzt werden sollte.
„Das war wirklich ein Gamechanger“, berichtete Arlinghaus. Der Ökostromanteil in der Produktion sei dadurch von 25 auf 80 Prozent gesteigert worden. Zudem werde inzwischen automatisiert erfasst, wie viel grüner Strom in die Herstellung eines Möbelstücks eingeflossen ist und siehe da: Die Kunden seien ganz verrückt nach den Ökostrom-Holzmöbeln. „Mit so einer Technologie können wir wieder Alleinstellungsmerkmale für die Industrie schaffen und das hat keine 20.000 Euro gekostet“, sagte die Institutsleiterin, die auch dem Wissenschaftsrat der Bundesregierung angehört.

Für Arlinghaus steht fest: „Wir müssen viel mehr automatisieren. Wir müssen Technologie nutzen, um den Menschen in jeder Phase zu unterstützen.“ Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik seien nicht nur bei der Effizienzsteigerung wichtig, sondern auch bei der Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze. „Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen in Zukunft dort arbeiten werden, wo sie sich wohlfühlen“, sagte die Produktionsforscherin mit Blick auf den Fachkräftemangel. KI steigere zum Beispiel bei der Planung von Arbeitsschichten schon jetzt die Mitarbeiterzufriedenheit und Roboter könnten etwa dabei mithelfen, die Metallherstellung in Europa zu halten. „Da gibt es viele Jobs, die keiner mehr machen will“, sagte die Wirtschaftsingenieurin.
Ähnliches gelte für den Stahlbau. „Das ist eine wirklich dreckige Arbeit und die Betriebe haben echte Probleme, Nachwuchs zu bekommen“, berichtete Arlinghaus von einem Forschungsprojekt zur Automatisierung des Mehrlagenschweißens in Aschersleben. Dort kann die monotone Schwerstarbeit ab sofort von mobilen Schweißrobotern erledigt werden, die sich auch noch kinderleicht programmieren lassen.

Aber nicht nur in der Industrie, sondern auch auf dem Bau, in der Logistik oder in der Pflege müsse man „Unautomatisierbares automatisieren“, forderte Arlinghaus. Der erste Schritt dorthin sei die flächendeckende Installation von Sensoren – alle Arbeitsschritte müssten getrackt und analysiert werden, um Verbesserungspotenziale auszumachen. Im Grunde müsse all das endlich umgesetzt werden, was unter dem Begriff „Industrie 4.0“ schon seit der Hannover-Messe 2013 umrissen wird. „Viele der Potenziale, die wir uns damals versprochen haben, haben sich bisher aber nicht erfüllt – nur in Leuchttürmen. Die brauchen wir auch, aber am Ende müssen wir es in Deutschland schaffen, ein ganzes Lichtermeer zu entfachen“, sagte Arlinghaus.
Die Rahmenbedingungen für Industrie und Wirtschaft seien derzeit zwar dramatisch. Die rasante Technologieentwicklung lässt die Produktionsforscherin jedoch optimistisch in die Zukunft blicken. Sie verglich die aktuelle Lage mit einer Achterbahnfahrt. „Das Herz und der Magen hängen gerade auf halb acht. Aber ich glaube, die Fahrt geht jetzt erst richtig los“, sagte sie. Die Fabriken der Zukunft könnten die Produktivität um 30 bis 45 Prozent steigern, die Wartungs- und Instandhaltungskosten um 40 bis 60 Prozent senken sowie die Qualitätsprobleme um 20 bis 50 Prozent reduzieren. „Das ist genau das, was wir am Hochlohnstandort Deutschland brauchen – und das brauchen wir in der Fläche“, betonte Arlinghaus.

Als absolutes Vorzeigeprojekt und als eine der modernsten Fabriken der Welt gilt das Gerätewerk von Siemens im pfälzischen Amberg. Rund 1200 Mitarbeiter arbeiten hier in der Produktion, aber 75 Prozent der Prozesse sind mittlerweile automatisiert. Von 2015 bis 2023 sei die Produktivität bei gleichbleibender Mannstärke um 70 Prozent gestiegen, berichtete Dirk Oberhaus, Vertriebsleiter der Pharma-Sparte bei Siemens und Standortchef in Hannover. Aber auch beim führenden Automatisierungsunternehmen Deutschlands ist Industrie 4.0 kein Selbstläufer. „Wir machen leider auch die Erfahrung, dass viele Digitalisierungsprojekte scheitern. Und warum scheitern sie? Weil nicht alle Betroffenen auch zu Beteiligten gemacht werden“, sagte Oberhaus. Es sei wichtig, die Mitarbeiter frühzeitig einzubinden und nicht von oben herab zu entscheiden.

„Der Fisch stinkt vom Kopf her“, sagte auch Familienunternehmer von Soden. Gerade bei den kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) beobachtet er immer noch Digitalisierungsängste und mangelnde Offenheit. „67 Prozent der Unternehmensinhaber sind über 50 Jahre alt und die holen Sie nicht so schnell ab. Im Alter wird man risikoavers“, meinte der Delligser. Er forderte mehr Experimentierfreudigkeit bei den KMU und warnte davor, das Thema Digitalisierung zu theoretisch an die ältere Geschäftsführerriege heranzutragen.
„Wenn man ein 60-jähriger Unternehmer ist, der jahrzehntelang abgeliefert hat und dann kommt ein nassgekämmter Jüngling von der Uni, um ihm seinen Laden zu erklären – das kann nicht funktionieren“, sagte von Soden. Auch den Dachdeckermeister, der kein Englisch spricht, habe man bei so einem Vortrag spätestens auf Folie zwei verloren. Dass Digitalisierungsprojekte einen ganz konkreten Nutzen für ein Unternehmen haben können, sei aber gar nicht schwer zu erklären. „Eine unserer besten Anschaffungen war ein 500-Euro-Scanner. Damit haben zwei Auszubildende in zwei Wochen unser ganzes Archiv digitalisiert“, erzählte der Metallunternehmer.
Als ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Digitalisierung nannte Oberhaus den jüngsten Überflieger unter den deutschen Pharmaunternehmen. „Ohne die Digitalisierung – durch unsere bescheidene Hilfe – hätte Biontech dieses Wachstum nicht geschafft“, sagte der Siemens-Manager. Für die Herstellung des Corona-Impfstoffs seien 50.000 Arbeitsschritte nötig, die 2600 Mal dokumentiert werden. Unter diesen Voraussetzungen sei Fließbandarbeit nur mittels Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung möglich.
Oberhaus räumte aber auch ein: „Im industriellen Umfeld sind es vor allem die großen Konzerne, die sich mit Digitalisierung beschäftigen. Denn machen wir uns nichts vor: Das kostet Geld und das kostet Manpower.“ Darüber, dass die Digitalisierung für kleinere und mittlere Unternehmen herausfordernd bleibt, waren sich nicht nur die Teilnehmer auf dem Podium, sondern auch die Manager und Geschäftsführer vom Industrie-Club Hannover im Publikum einig.

Prof. Arlinghaus appellierte an KMU dennoch, sich der Aufgabe trotz aller Herausforderungen schnellstmöglich zu stellen – vor allem auch angesichts des Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes, das die digitale Nachverfolgung von internationalen Lieferketten quasi unumgänglich mache. „Die großen Unternehmen werden die kleinen nach ihren Lieferketten befragen“, sagte die IFF-Expertin und unkte: „Ich sehe schon, wie kleine Logistikunternehmen aus dem Markt gedrängt werden, weil sie sich nicht der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit stellen.“