Historikerdebatte seit den frühen 60ern
Ist das wirklich so? Nach Rundblick-Recherchen in verschiedenen Archiven sind Zweifel angebracht, und diese hängen auch mit der jahrzehntelangen Geschichte der Erforschung des Reichstagsbrandes zusammen. Bis heute gilt die Frage als ungeklärt, ob der Holländer Marinus van der Lubbe tatsächlich ein Einzeltäter war, oder ob in Wirklichkeit die Nazis selbst das Feuer gelegt haben – um den Anlass für ihre Ausweitung der Gewaltherrschaft zu liefern. Seit den frühen sechziger Jahren gibt es auf beiden Seiten Historiker und Publizisten, die vehement ihre These vertreten. In etlichen Gerichtsprozessen standen sich die Lager gegenüber, und zumindest in den frühen Veröffentlichungen vor allem der Vertreter der These, die Nazis seien es gewesen, wurde mit vielen Fälschungen und Verzerrungen gearbeitet.Eine Figur, an der sich viele Legenden ranken, ist der 2011 gestorbene Hobby-Historiker Fritz Tobias aus Hannover, einst Mitarbeiter des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Er zählte in den sechziger Jahren zu den Verfechtern der Alleintäter-Theorie, legte ein umfangreiches Aktenarchiv an, arbeitete kriminalistisch den Fall auf und galt danach als Kapazität auf diesem Gebiet. Erbitterte Gegner fand Tobias im sogenannten „Luxemburger Komitee“, das die Querverbindungen des Hobby-Forschers zu Polizei, Verfassungsschutz und alten NS-Leuten als problematisch einstufte.
Die Faktenlage hat sich nicht geändert
Als Lennings sich 1955 meldete, war das gewissermaßen eine Reaktion auf den in Berlin wirkenden Rechtsanwalt Arthur Brandt, der in der NS-Zeit emigriert war, ein Jahr vorher nach Deutschland zurückkehrte und sich just in dieser Zeit zum Ziel setzte, Wiedergutmachung für NS-Opfer zu erstreiten. Brandt wollte einen Wiederaufnahmeprozess gegen den 1933 hingerichteten van der Lubbe erreichen – um klarzustellen, dass er nicht der Täter gewesen sei. Lennings, der von dieser Absicht erfahren haben musste, bot sich ihm als Zeuge an, und Brandt (1989 verstorben) berichtete später auch darüber. Er erwähnte einen „Gewährsmann“ aus der SA, der ihm die Abläufe geschildert habe, gab aber seine Identität nicht preis.Wie die Reichstagsbrand-Forscher Alexander Bahar und Wilfried Kugel in ihrem vor 18 Jahren erschienenen Buch berichten, schrieb Brandt nach dem 1955 erfolglosen Versuch eines Wiederaufnahmeprozesses, er habe „den Gewährsmann“ schützen müssen – denn die Nennung seines Namens „hätte seinen sicheren Tod bedeutet“. Das heißt: Die Inhalte der eidesstattlichen Erklärung von Lennings waren 2001 schon veröffentlicht, nur der Name Lennings blieb noch geheim. Er ist jetzt öffentlich. Genaugenommen sind alle Inhalte des Lennings-Papiers schon seit Juni 1966 bekannt, denn damals (vier Jahre nach Lennings‘ Tod) schilderte Rechtsanwalt Brandt diese Zusammenhänge ausführlich in einem Artikel für die Schweizer „Weltwoche“ – allerdings verschwieg er auch damals den Namen.Klarheit wird man vermutlich nie bekommen, da die Beteiligten allesamt verstorben sind und viele Akten Lücken aufweisen.
Daraus lassen sich jetzt Schlüsse ziehen: Die Faktenlage hat sich gegenüber der in den vergangenen Jahrzehnten mit dem vor einem halben Jahr als angebliche Neuheit präsentierten Dokument nicht verändert. Die Argumentation, die man jetzt dem SA-Mann Lennings zuschreiben kann, war bekannt, auch wenn sie vom Forscher Tobias nicht gewürdigt worden war. Es gibt die Fraktion der Tobias-Gegner, die in diesen Zusammenhängen nun klare Indizien für die Täterschaft der Nazis sehen. Dagegen steht die Fraktion der Tobias-Verteidiger, die sich auf die Ermittlungsakten und Gerichtsprotokolle stützen, in denen die Abläufe detailliert nachgezeichnet werden.Der Historiker und „Welt“-Autor Sven Felix Kellerhoff, der zu den Tobias-Verteidigern gerechnet werden kann, hält die Ermittlungsakten für „fraglos echt und unverfälscht“, und er sieht darin klare Widersprüche zu Lennings‘ Darstellung der Abläufe. Es handelte sich um das Frühjahr 1933, damals hatten die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit und die Justiz noch in weiten Teilen unabhängig arbeiten können, der Wandel zu Erfüllungsgehilfen des totalitären Regimes vollzog sich erst später.Klarheit darüber wird man vermutlich nie bekommen, da die Beteiligten allesamt verstorben sind und viele Akten Lücken aufweisen. Das gilt auch für die andere These der Tobias-Gegner, dass nämlich der frühere Verfassungsschutz-Mitarbeiter versucht haben soll, eine Reihe von Leuten, die 1933 an der Reichstagsbrand-Ermittlung beteiligt waren und später in Hannover lebten und wirkten, mit einseitiger Geschichtsschreibung zu stützen, zu decken oder bestimmte Vorkommnisse zu vertuschen. Der Reichstagsbrand dürfte weiterhin das größte historische Rätsel in Deutschland bleiben. (kw)