Reichstagsbrand: Geschichte muss nicht neu geschrieben werden
Im vergangenen Sommer sorgte eine angebliche Enthüllung zum Feuer im Reichstag am 27. Februar 1933 (heute vor 87 Jahren) für mächtigen Wirbel. Sind wichtige Unterlagen jahrzehntelang unterschlagen worden? Der Rundblick hat in die Archive geschaut – und liefert in zwei Teilen eine Bewertung der Abläufe. Heute der erste Teil: Alter Wein in neuen Schläuchen.
In den letzten Tagen des Juli, zum Höhepunkt des parlamentarischen Sommerlochs im Jahr 2019, sorgte ein vierseitiges Schreiben aus dem Jahr 1955 für mächtigen Wirbel in der Medienwelt. Historiker und Geschichtsforscher sollen darauf gestoßen sein, als sie dabei waren, den bisher nicht zugänglichen Nachlass eines vor Jahren verstorbenen Forschers zu sichten. Es handelt sich um eine „eidesstattliche Versicherung“ des 1962 verstorbenen SA-Mannes Martin Lennings, die dieser gegenüber einem Notar in Hannover abgegeben hatte.
Mehr als 60 Jahre schlummerte das Original dieser Erklärung in den Archiven des Amtsgerichts. Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, die das Papier als erste verbreitete, tat dies in einem sehr ausführlichen, teils euphorisch wirkenden Text. Dieser legte die Vermutung nahe, nun müsse die Geschichte des Reichstagsbrandes vom 27. Februar 1933, der ein Auslöser für die intensive Verfolgung der politischen Gegner durch die Nazis war, neu geschrieben werden.
Historikerdebatte seit den frühen 60ern
Ist das wirklich so? Nach Rundblick-Recherchen in verschiedenen Archiven sind Zweifel angebracht, und diese hängen auch mit der jahrzehntelangen Geschichte der Erforschung des Reichstagsbrandes zusammen. Bis heute gilt die Frage als ungeklärt, ob der Holländer Marinus van der Lubbe tatsächlich ein Einzeltäter war, oder ob in Wirklichkeit die Nazis selbst das Feuer gelegt haben – um den Anlass für ihre Ausweitung der Gewaltherrschaft zu liefern. Seit den frühen sechziger Jahren gibt es auf beiden Seiten Historiker und Publizisten, die vehement ihre These vertreten. In etlichen Gerichtsprozessen standen sich die Lager gegenüber, und zumindest in den frühen Veröffentlichungen vor allem der Vertreter der These, die Nazis seien es gewesen, wurde mit vielen Fälschungen und Verzerrungen gearbeitet.
Eine Figur, an der sich viele Legenden ranken, ist der 2011 gestorbene Hobby-Historiker Fritz Tobias aus Hannover, einst Mitarbeiter des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Er zählte in den sechziger Jahren zu den Verfechtern der Alleintäter-Theorie, legte ein umfangreiches Aktenarchiv an, arbeitete kriminalistisch den Fall auf und galt danach als Kapazität auf diesem Gebiet. Erbitterte Gegner fand Tobias im sogenannten „Luxemburger Komitee“, das die Querverbindungen des Hobby-Forschers zu Polizei, Verfassungsschutz und alten NS-Leuten als problematisch einstufte.
Diese Gemengelage wird zur Beurteilung wichtig, denn eine Abschrift der eidesstattlichen Versicherung des SA-Mannes Lennings fanden die Historiker jüngst ausgerechnet in der Hinterlassenschaft von Tobias. Dieser hatte das Papier allerdings in seinen Veröffentlichungen nie erwähnt – und gerätselt werden darf nun, warum er das nicht tat. In der HAZ wird als Erklärung angeboten, die Inhalte hätten nicht zu Tobias‘ Theorie gepasst, er habe sie deshalb ausgeblendet. Man darf aber auch eine andere Variante annehmen, dass nämlich die Aussagen von Lennings in der Prüfung von Tobias als nicht schlüssig oder unglaubwürdig erschienen – er ihnen also keine Relevanz einräumte.
Was steht denn nun in den vier Seiten, die nun aufgetaucht sind? Lennings meldet sich 1955 beim hannoverschen Notar Paul Siegel, um „sein Gewissen zu erleichtern“. Er berichtet dort, 22 Jahre nach den Ereignissen, dass er seinerzeit als SA-Mann vom SA-Führer Karl Ernst den Auftrag bekommen habe, den Holländer Marinus von der Lubbe in den damals schon brennenden Reichstag zu bringen – damit dort anschließend ein kommunistischer Täter festgenommen und später präsentiert werden konnte. Lennings schildert die Umstände in vielen Details, die Nachprüfungen durchaus Stand halten können, was Orte und Umstände angeht. Aber ist er deshalb schon glaubwürdig?
Die Faktenlage hat sich nicht geändert
Als Lennings sich 1955 meldete, war das gewissermaßen eine Reaktion auf den in Berlin wirkenden Rechtsanwalt Arthur Brandt, der in der NS-Zeit emigriert war, ein Jahr vorher nach Deutschland zurückkehrte und sich just in dieser Zeit zum Ziel setzte, Wiedergutmachung für NS-Opfer zu erstreiten. Brandt wollte einen Wiederaufnahmeprozess gegen den 1933 hingerichteten van der Lubbe erreichen – um klarzustellen, dass er nicht der Täter gewesen sei. Lennings, der von dieser Absicht erfahren haben musste, bot sich ihm als Zeuge an, und Brandt (1989 verstorben) berichtete später auch darüber. Er erwähnte einen „Gewährsmann“ aus der SA, der ihm die Abläufe geschildert habe, gab aber seine Identität nicht preis.
Wie die Reichstagsbrand-Forscher Alexander Bahar und Wilfried Kugel in ihrem vor 18 Jahren erschienenen Buch berichten, schrieb Brandt nach dem 1955 erfolglosen Versuch eines Wiederaufnahmeprozesses, er habe „den Gewährsmann“ schützen müssen – denn die Nennung seines Namens „hätte seinen sicheren Tod bedeutet“. Das heißt: Die Inhalte der eidesstattlichen Erklärung von Lennings waren 2001 schon veröffentlicht, nur der Name Lennings blieb noch geheim. Er ist jetzt öffentlich. Genaugenommen sind alle Inhalte des Lennings-Papiers schon seit Juni 1966 bekannt, denn damals (vier Jahre nach Lennings‘ Tod) schilderte Rechtsanwalt Brandt diese Zusammenhänge ausführlich in einem Artikel für die Schweizer „Weltwoche“ – allerdings verschwieg er auch damals den Namen.
Klarheit wird man vermutlich nie bekommen, da die Beteiligten allesamt verstorben sind und viele Akten Lücken aufweisen.
Daraus lassen sich jetzt Schlüsse ziehen: Die Faktenlage hat sich gegenüber der in den vergangenen Jahrzehnten mit dem vor einem halben Jahr als angebliche Neuheit präsentierten Dokument nicht verändert. Die Argumentation, die man jetzt dem SA-Mann Lennings zuschreiben kann, war bekannt, auch wenn sie vom Forscher Tobias nicht gewürdigt worden war. Es gibt die Fraktion der Tobias-Gegner, die in diesen Zusammenhängen nun klare Indizien für die Täterschaft der Nazis sehen. Dagegen steht die Fraktion der Tobias-Verteidiger, die sich auf die Ermittlungsakten und Gerichtsprotokolle stützen, in denen die Abläufe detailliert nachgezeichnet werden.
Der Historiker und „Welt“-Autor Sven Felix Kellerhoff, der zu den Tobias-Verteidigern gerechnet werden kann, hält die Ermittlungsakten für „fraglos echt und unverfälscht“, und er sieht darin klare Widersprüche zu Lennings‘ Darstellung der Abläufe. Es handelte sich um das Frühjahr 1933, damals hatten die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit und die Justiz noch in weiten Teilen unabhängig arbeiten können, der Wandel zu Erfüllungsgehilfen des totalitären Regimes vollzog sich erst später.
Klarheit darüber wird man vermutlich nie bekommen, da die Beteiligten allesamt verstorben sind und viele Akten Lücken aufweisen. Das gilt auch für die andere These der Tobias-Gegner, dass nämlich der frühere Verfassungsschutz-Mitarbeiter versucht haben soll, eine Reihe von Leuten, die 1933 an der Reichstagsbrand-Ermittlung beteiligt waren und später in Hannover lebten und wirkten, mit einseitiger Geschichtsschreibung zu stützen, zu decken oder bestimmte Vorkommnisse zu vertuschen. Der Reichstagsbrand dürfte weiterhin das größte historische Rätsel in Deutschland bleiben. (kw)