Professioneller Offenbarungseid
Darum geht es: Nach der Berichterstattung über den Anschlag in Nizza, den Putschversuch in der Türkei und den Amoklauf in München gab es erneut Kritik an der Berichterstattung der Sender. Ein Kommentar dazu von Martin Brüning.
Ob nach Nizza, Ankara oder München: Inzwischen ist es üblich geworden, nach Amokläufen oder Terroranschlägen zeitnah ein Resümee der Medienberichterstattung zu ziehen. Medienkritiker richten über Medien und oftmals wird der Zeigerfinger dabei auch ein wenig zu groß.
Jeder Redakteur, der einmal im Breaking News-Modus gearbeitet hat, weiß, wie leicht es ist, am Tag danach die Stellen zu finden, an denen man etwas hätte besser machen können. Die Kritik, die in sozialen Medien auf Redakteure schon oft während der laufenden Berichterstattung einprasselt, ist oftmals auch ungerecht und unzutreffend.
Viele Diskutanten machen es sich allerdings auch oft zu leicht. Sie verlagern die Diskussion allein auf die Devise „keep calm and wait for facts“ und implizieren damit, dass die einen bereits ohne Fakten lossenden, während die anderen noch nachhaltig recherchieren, um dann später mit einer qualitativ hochwertigeren Sendung zu starten. Aber wer mehr zeitlichen Vorlauf braucht, der recherchiert deswegen nicht automatisch gründlicher.
In unserem Land leben fast drei Millionen Menschen türkischer Herkunft. Wenn die ARD während des Putschversuchs in der Türkei erst einmal weiter einen Tatort aus der Konserve sendet, ist das kein Zeichen von Recherchequalität, sondern Zeichen eines Qualitäts- und Tempodefizits. Und wenn in den ersten Minuten der 20 Uhr-Ausgabe der Tagesschau das Chaos ausbricht, dann ist das ein professioneller Offenbarungseid.
Das Augenmerk liegt dabei immer wieder auf ARD und ZDF. Sie haben es wirklich nicht leicht. Aber bei acht Milliarden Euro Einnahmen aus Zwangsgebühren pro Jahr gibt es eben auch acht Milliarden Gründe, genauer hinzuschauen und die Messlatte höher anzusetzen.
Der Moderator des heute-journals, Claus Kleber, schrieb kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, die öffentlich-rechtlichen Sender dürften sich keinem Rattenrennen mit den sozialen Medien unterwerfen. Das fordert auch niemand. Man sollte sich aber auch bei Breaking News nicht jedes Mal von den Privatsendern wie n-tv eine lange Nase zeigen lassen.
Einem ehemaligen Intendanten des ORF wird das Zitat nachgesagt: „Journalismus ist Unterscheidung – die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, Sinn und Unsinn“. Nach diesem Grundsatz kann man schon wenige Minuten nach einem Ereignis arbeiten und mit Skype und Telefonverbindungen live berichten. Man kann sich aber auch erst einmal lange zwischen den Anstalten abstimmen, ausgiebig die Ü-Wagen koordinieren und Übertragungskabel kilometerlang ausrollen.
Den Satz „Unterscheide und organisiere erst einmal eine Stunde lang und starte dann Deine Sendung“ hätte der ehemalige ORF-Intendant bestimmt nicht gesagt.