In China werden neue Krankenhäuser, wenn sie nötig werden, in ein paar Wochen aufgerichtet – Planungszeit inbegriffen. Dort reicht auch ein Beschluss, um ganze Städte von der Außenwelt abzuriegeln, damit die Ansteckung keine Grenzen überschreitet. Aber hierzulande? Das staatliche Entscheidungssystem, auch in Katastrophenfällen wie einer Grippe-Epidemie, ist vielschichtiger und stärker auf Kooperation angelegt. Das bringt es mit sich, dass manche Prozesse länger dauern. Ist das gut so? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

PRO: Zentralismus mag manche Entscheidung in Notfällen vereinfachen – aber die besseren Lösungen bietet dieser Weg auch nicht. Die kommunale Hauptverantwortung in Katastrophenfällen hat sich hierzulande bewährt. Wichtig ist nur, dass man Schwachstellen erkennt und dafür die richtigen Lösungswege bereithält, meint Klaus Wallbaum.

Als vor einigen Monaten das Thema Klimaschutz das absolut beherrschende in Deutschland war, und nicht nur hier, liebäugelten manche Kommentatoren schon mit einer Öko-Diktatur. Ihre Begründung lautete so: Für eine begrenzte Zeit müsste ein Rat weiser Wissenschaftler die Herrschaft übernehmen, die Weichen für nötige Reformen einleiten (vom Verbot der Verbrennungsmotoren bis zur Regulierung der Tierhaltung) und die Gesellschaft so auf den Pfad der Tugend führen. Dann, wenn das erledigt sei, könne man wieder zu demokratischen Wahlen und zum langwierigen Meinungsstreit zurückkehren. Hinter dieser Vorstellung steckte reichlich Kritik an der Schwerfälligkeit demokratischer Entscheidungswege – es werde unendlich lange diskutiert, und die Kompromisse als Ergebnis reichten nicht, die nötigen Veränderungen einzuläuten.

Chinesische Strategie schlug fehl

Nun haben wir gegenwärtig ein anderes Thema, das den öffentlichen Diskurs beherrscht, nämlich das Corona-Virus, das wie alle unbekannten Erkrankungen zunächst ein hohes Angstpotenzial hat. Ist Deutschland für solche Krisen gerüstet, wenn es nicht einmal gelingen will, in den Kliniken genügend Schutzkleidung für das ärztliche Personal vorzuhalten? Die Antwort lautet: Ja, es gibt hier und da Mängel, aber die Alternative wäre weitaus beunruhigender. Je höher die Verantwortung für solche Krisenfälle angesiedelt wird, also in Deutschland etwa direkt beim Bundesgesundheitsminister oder bei der Bundeskanzlerin, desto politischer wird die Bearbeitung des Themas. Nehmen wir zum Beispiel die Chinesen. Dort gibt es die Diktatur in Reinform, die sich mancher fanatische Klimaschützer vielleicht wünscht. Da die Staatsführung das Virus nicht gebrauchen konnte, wurden die Erkrankungen in der ersten Zeit heruntergespielt und verschwiegen. Man hoffte in Peking, das Problem würde bald von selbst verschwinden. Die Strategie schlug fehl, nötige Schutzvorkehrungen in den Regionen unterblieben, kritische Stimmen von Ärzten wurden unterdrückt. Der zentralistische Staat, der die Krise beherrschen sollte, hatte darauf politisch und nicht sachbezogen reagiert. Die Folge war: Das Virus breitete sich noch schneller aus. Jetzt geht es um die Vertuschung der Verantwortung dafür.

Je höher die Verantwortung für solche Krisenfälle angesiedelt wird, desto politischer wird die Bearbeitung des Themas.

So ist doch im Vergleich eher das deutsche Modell zu bevorzugen. Das sieht so aus: Nach dem Subsidiaritätsprinzip sind zuallererst die unteren Ebenen verantwortlich, hier also die Landkreise. Sie unterstehen dem Land als Aufsichtsbehörde. Wenn ein kleiner oder personell überforderter Kreis die richtigen Schritte nicht einleitet, kann das Land einschreiten. Das setzt indes voraus, dass die Aufsicht aufmerksam, flexibel und tatkräftig ist. Wenn eine Landesverwaltung schlecht arbeitet, könnte der Bund über den Bundeszwang aktiv werden und einen Staatskommissar einsetzen. In Niedersachsen genießen die Gesundheitsbehörden des Landes einen Guten Ruf, die Leistungsfähigkeit der Kreise ist höchst unterschiedlich, daher kommt es schon sehr auf eine stets wachsame Rolle der Landesregierung (in diesem Fall des Sozialministeriums) an. Das ist in Katastrophenfällen, etwa bei Hochwasser oder Waldbränden, ähnlich strukturiert. Man kann darüber streiten, ob hierzulande die Vorbereitung auf eine Grippe-Epidemie oder andere Krisen gut genug ist, ob es genügend technische Ausrüstungen gibt, genügend geschulte Mitarbeiter oder auch nur genügende Notfallpläne, die kurzfristig greifen können. Vermutlich ist alles verbesserungsfähig. Vermutlich sind auch widersprüchliche Signale von Land zu Land oder von Kommune zu Kommune für die Bürger verwirrend. Und die Schutzkleidung, die eigentlich in allen Kliniken vorhanden sein müsste, aber offenbar nicht überall vorrätig ist, liefert ein Beispiel dafür.

Kompliziertes Räderwerk verschiedener Zuständigkeiten

Das sind Mängel, aber sie sind nicht dramatisch. Wäre das in einem stärker zentralisierten Modell anders? Bisher gibt die Bundesregierung nur einen Rahmen vor, den andere, in erster Linie die Länder, rechtlich ausfüllen müssen. Vermutlich würde ein Bundesgesundheitsminister, der umfassend zuständig ist für die Bekämpfung von Epidemien und mächtige Kompetenzen hätte, aus einem Grund bestrebt sein, Mängel und Missstände besser zu beseitigen: Es wäre für seine politische Existenz entscheidend, da das Thema mit der Höherstufung automatisch politisiert wäre. Auf der anderen Seite ist die Gefahrenanfälligkeit unter solchen Umständen auch höher, denn kein Bundesminister hat die Mittel, jeden Winkel der Republik auszuleuchten und die regionalen Besonderheiten von Missständen zu erkennen. Außerdem können politische und sachbezogene Einschätzungen in einem solchen Modell stärker in Konflikt miteinander geraten. Die Sachlichkeit einer Maßnahme drohte der politischen Opportunität (ein Mann will Stärke beweisen) untergeordnet zu werden.

Die dezentrale Regelung der Krisenbekämpfung in Deutschland geschieht immer nach den klassischen Behördenprinzipien – jede Einschränkung, die Bürgern auferlegt wird, muss geeignet sein, erforderlich und auch angemessen. Da sind viele Abwägungen zu treffen, notfalls müssen diese auch vor Gericht Bestand haben, wenn ein Bürger dagegen klagt. Wenn das beherzigt wird, müsste eigentlich im Fall der Fälle alles klappen, da ein kompliziertes Räderwerk verschiedener Zuständigkeiten ineinander greift. Trotzdem gibt es auch noch den Helmut-Schmidt-Grundsatz, der neben dem fein austarierten rechtlichen Gerüst auch beherzigt werden muss. Schmidt hatte 1962 bei der Sturmflut als Hamburger Innensenator die gesetzlichen Vorgaben überschritten und eigenhändig die Bundeswehr angefordert, was er gar nicht hätte tun dürfen. Der SPD-Politiker rechtfertigte sich später, er habe die Krise gemanagt und nicht vorher das Grundgesetz gelesen. Zu solchen Situationen kann es eben auch kommen, wenn Not herrscht und schnell entschieden werden muss.

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CONTRA: Wir haben ganz viele Pläne, die auf dem Papier stehen. Das bedeutet aber nicht, dass der Infektionsschutz so funktioniert, wie er funktionieren sollte. Braucht der Bund mehr Kompetenzen? Ja, meint Martin Brüning.

Der Föderalismus ist eine feine Sache. Mit ihm verbinden wir die Hoffnung auf mehr Demokratie, einen besseren Schutz vor Machtmissbrauch und eine stärkere Bürgernähe. So ist es zumindest in der Theorie. Angesichts immer neuer Diskussionen um Fehler im System, die jüngst wieder durch die Corona-Virus-Krise aufflammen, muss man in der Praxis inzwischen allerdings die Frage stellen, ob uns nicht nur ein Schönwetter-Föderalismus geblieben ist, der für das Politikseminar in Schule und Hochschule oder für Hefte der Bundeszentrale für politische Bildung taugt. Schließlich stößt die Arbeitsteilung immer häufiger an ihre Grenzen, dabei ist die Bildungspolitik nur ein kleiner Stein im riesigen Puzzle der Föderalismusdebatten.

Nach Ausbruch des Corona-Virus in Deutschland wurde wieder einmal deutlich, dass der Bund in wichtigen Fällen nach wie vor keine besonders großen Kompetenzen hat. Das führt dazu, dass das Krisenmanagement von außen betrachtet – vorsichtig gesagt – etwas uneinheitlich verläuft. „Wir haben keinen Plan“, sagte ein Hamburger HNO-Arzt im NDR. Stimmt nicht, wir haben ganz viele Pläne. Manche Länder und Kommunen erscheinen organisierter, andere hinken hinterher. Beispiele, bei denen man sich die Augen reibt, gibt es in vielen Ländern. So teilte die Gesundheitsministerin in Brandenburg am Mittwoch mit, man bereite eine einheitliche landesweite Hotline für besorgte Anrufer vor. Warum man diese erst vorbereitet, wenn schon der erste Corona-Virus-Fall offiziell aufgetreten ist, bleibt vermutlich das Geheimnis der Brandenburger Landespolitik. Und warum in dem Bundesland einige Kommunen eine Hotline anbieten, andere wiederum nicht, lässt sich ebenfalls nur schwer nachvollziehen. Wohl denen, die in den besser organisierten Kommune wohnen.

Kommunen und Länder sollten selbstkritisch prüfen, warum ihnen Teile der Bevölkerung das Management des Krisenfalls nicht so recht zutrauen.

In Hessen mussten Kinder, die mit ihren Familien kürzlich nach China gereist waren, einem Kindergarten für zwei Wochen fernbleiben, in einer anderen Kindertagesstätte wenige Kilometer weiter galt diese Regelung nicht – ein Gesundheitsamt, zwei Kommunen, zwei unterschiedliche Entscheidungen. Und in Nordrhein-Westfalen wundern sich Bürger, dass die Messe Düsseldorf gleich mehrere Veranstaltungen absagt, während die Messe Dortmund das nicht in Erwägung zieht. Hinzu kommen bundesweite Debatten über fehlende Schutzkleidung oder darüber, wie viele sogenannte Erstkontakte die Amtsärzte praktisch überhaupt testen können. Für die wichtigen Belange des Infektionsschutzes ist jetzt in großen Teilen ausgerechnet die Ebene zuständig, die es wie in Hannover im Normalfall nicht einmal schafft, in den Standesämtern die Geburt neugeborener Kinder zeitnah zu dokumentieren. Vertrauenerweckend ist das nicht, und es ist kein Wunder, dass Bürger die Fragestellungen bei der Aufgabenverteilung als Kompetenzwirrwarr wahrnehmen und das ursprünglich einmal gut gemeinte System in Frage stellen.

Taugt China als Vorbild?

Auch pünktlich zur Corona-Krise ist in Deutschland alles gut geregelt, zumindest auf dem Papier. Aber Papier ist geduldig, und im Ernstfall stellt sich nicht selten heraus, dass nicht alles funktioniert, nur weil jemand einmal eine Organisationsstruktur aufgeschrieben hat. Nicht umsonst stellte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn fest, dass es zwar durchaus Pandemiepläne gibt, man sich aber des Eindrucks nicht erwehren könne, dass es Vorort möglicherweise an Übungen mangelt. Nun muss man nicht gleich in den Fernen Osten schauen, wo China kurzerhand ganze Städte abriegelt und mit rigiden Maßnahmen versucht, der Krise Herr zu werden. Wer sich angesichts des sich ausbreitenden Virus China zum Vorbild nimmt, der will automatisch „ein bisschen Diktatur wagen“. Das aber kann nicht der richtige Wege für eine westliche Gesellschaft sein.

Dennoch ist es wichtig, das eigene System kritisch zu hinterfragen, und es ist keineswegs so, dass die anti-föderale Stimmung, die immer wieder in der Öffentlichkeit spürbar wird, auf eine Arroganz zurückzuführen ist, wie ein Kommentator kürzlich schrieb.  Kommunen und Länder sollten selbstkritisch prüfen, warum ihnen Teile der Bevölkerung das Management des Krisenfalls nicht so recht zutrauen. Ein Teil der Wahrheit ist dabei, dass in den vergangenen Jahren ein immer stärkeres Ungleichgewicht entstanden ist. Der Bund hat nach wie vor das Geld, aber teilweise gar nicht so viele Kompetenzen. Länder und Kommunen wiederum möchten immer und überall mehr Geld, sind aber gleichzeitig bereit, gerne auch einmal auf Kompetenzen zu verzichten. So ist es ja auch viel leichter, mit dem Finger auf den Bund zu zeigen, wenn einmal wieder etwas nicht so gut laufen sollte. In einem Land, in dem Eigenverantwortung nicht mehr besonders groß geschrieben wird, bekommt der Föderalismus ein Problem.

Vielleicht sind die USA hier das bessere Beispiel. Auch hier gilt der Föderalismus, auch hier haben die Kommunen viele Kompetenzen. Bei der Infektionsbekämpfung hört der Spaß allerdings auf. Hier entscheidet Washington, was zu tun ist. Vielleicht auch ein Modell für Deutschland, dass man nach der Corona-Virus-Krise einmal ganz gelassen diskutieren sollte.