Pro & Contra: Ist der Abbruch der Jamaika-Gespräche verständlich?
Die politischen Karten werden neu gemischt. Nach dem Aus der Jamaika-Sondierungsgespräche richten sich die Augen auf die SPD. Möglich wären auch eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Aber: Ist der Abbruch der Jamaika-Gespräche durch die FDP überhaupt verständlich? Lesen Sie dazu ein Pro & Contra von Martin Brüning und Klaus Wallbaum.
PRO: Jetzt wird sichtbar, wie groß Missgunst und Misstrauen zwischen den Verhandlungspartnern waren. Auch in der Politik sollte es keine Zwangsehen geben. Wenn die SPD bei Ihrem Nein bleibt, sollte der Wähler das Wort haben, meint Martin Brüning.
Die Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Zum Glück. Einst musste früh pflicht- und standesgemäß geheiratet werden und man blieb zumeist ein Leben lang zusammen, egal, wie unglücklich man miteinander war. Heute wird dort geheiratet, wo die Liebe hinfällt, und Scheidungen werden nicht mehr gesellschaftlich geächtet. Was die Politik angeht, so gibt es bei einigen eine ungute Tendenz zur Zwangsehe. Es sind diejenigen, die das Aus der Jamaika-Sondierungen kritisieren, obwohl doch bereits in den vergangenen Wochen die Beziehungsunfähigkeit dieses Bündnisses zu sehen war.
Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig. So wären Kompromisse in der Flüchtlings- und Klimapolitik schwierig gewesen, weil Grüne und FDP dafür selbst gesetzte rote Linien hätten überschreiten müssen. Auch die überdimensionalen Egos einiger Teilnehmer spielten eine Rolle. Während sich die künftigen Koalitionäre in Niedersachsen still und leise hinter verschlossenen Türen verständigten, wurde in Berlin ständig quergeschossen. Das nervte nicht nur die Verhandlungsteilnehmer, sondern zunehmend auch die Wähler. Und der Unmut des linken Lagers bei den Grünen und die anstehende Landtagswahl in Bayern wären von Beginn an politische Sollbruchstellen eines fragilen Bündnisses gewesen. Die Ehekrise hätte vermutlich schon kurz nach der Hochzeit begonnen.
Jetzt geht es vor allem um taktische Fragen und die Deutungshoheit. Ist das Bündnis wirklich an der FDP gescheitert oder wäre es ohnehin nicht zustande gekommen, weil vor allem Grüne und CSU jedwede Einigung hätten durchfallen lassen? Amüsant ist, dass ausgerechnet diejenigen Kommentatoren, die mit der FDP am wenigsten anfangen können, nun unbedingt von ihr regiert werden wollten. „Staatspolitische Verantwortung“, lautet der Kampfbegriff. Aber gehört es zur staatspolitischen Verantwortung, in ein Bündnis einzutreten, das man weder inhaltlich noch personell akzeptabel findet? Oder entspricht nicht gerade das Nein der Freien Demokraten der Wahrnehmung staatspolitischer Verantwortung, zum dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner das Risiko einer solchen Entscheidung für seine Partei durchaus bewusst gewesen sein dürfte.
Amüsant ist, dass ausgerechnet diejenigen Kommentatoren, die mit der FDP am wenigsten anfangen können, nun unbedingt von ihr regiert werden wollten.
Die nächsten Tage dürften zeigen, wieviel Missgunst und Misstrauen zwischen den Verhandlungsteilnehmern geherrscht hat. Inzwischen spricht man sich gegenseitig die Haltung ab und ätzt, wie der Grüne Robert Habeck, die FDP habe die anderen „in Geiselhaft“ genommen. Dieses Bündnis wäre keine gute Koalition für Deutschland geworden. Und jetzt? Es gibt eine Partei im Bundestag, die ihre staatspolitische Verantwortung noch wahrnehmen kann. In Niedersachsen hatte die SPD das Nein der FDP zu jeglichen Ampel-Verhandlungen noch scharf kritisiert. In Berlin gibt es nun erste Stimmen unter Sozialdemokraten, die zumindest Gespräche mit der Union für möglich halten. Wenn es dazu nicht kommt oder Gespräche zwischen Union und SPD scheitern, sollte man Neuwahlen nicht in Bausch und Bogen verdammen. Diese Neuwahl-Allergie ist unverständlich. Was sollte man schon dagegen haben, den Wähler nach seiner Meinung zu fragen? In diesem Fall hätten die Parteien die Möglichkeit, sich noch einmal neu zu sortieren und Koalitionsoptionen von Beginn an noch einmal zu überdenken.
Die lautstarken Experten, die heute schon vorhersagen, wie eine solche Neuwahl ausgehen würde, kann man getrost überhören. Vor einer Neuwahl sollte niemandem bange sein. Der Wähler hat das Wort. Was kann es Besseres geben?
Mail an den Autor dieses Kommentars
CONTRA: Nein, CDU, FDP und Grüne hätten sich zusammenraufen müssen. Das ist ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit – so wie es jetzt in der Verantwortung der SPD steht, sich für eine Große Koalition zu öffnen, meint Klaus Wallbaum.
Früher war der Zweck einer Partei, die zu politischen Wahlen angetreten ist, der Machterwerb – die Möglichkeit, die Geschicke des Staates mitbestimmen zu können. Heute scheint das nicht mehr so zu sein, es treten viele andere Gesichtspunkte in den Vordergrund. War also früher alles besser? Nicht alles, aber manches. Zumindest in diesem Punkt.
Der flott gesprochene Satz von Franz Müntefering, dass Opposition „Mist“ sei, hat doch einen tieferen Sinn: Die Opposition kann kritisieren und monieren, einwenden und Bedenken kundtun, sie kann antreiben und aufdecken, in Frage stellen und angreifen. Nur eines kann sie eben nicht: Die Geschicke wirklich entscheiden. Gern reden sich Politiker von Linkspartei und AfD, die in vielen Bundesländern nur wenig Regierungsperspektive sehen, mit der Bemerkung heraus, allein ihre Existenz würde die anderen Parteien beeinflussen – und damit übe man indirekt Macht aus. Da ist durchaus etwas dran. So, wie die Grünen einst in den achtziger Jahren durch ihre Existenz dafür sorgten, dass SPD, CDU und FDP den Umweltschutz als Thema entdeckten, so wächst derzeit wegen der AfD die Sensibilität beim Umgang mit den Flüchtlingen. Damit kann man sich als Partei vielleicht zufrieden geben, nur: Ein Land wirklich zu regieren, das bedeutet viel mehr als nur die Bereitschaft, ein Thema als wichtig und regelungsbedürftig anzusehen.
Zur Wahl stellen sich Parteien mit ihrem Programmen, um dem Wähler zu signalisieren: Das sind unsere Positionen, die wir gern umsetzen wollen. Um noch einmal bei der „guten alten Zeit“ zu bleiben – früher hätte das geheißen, dass sich nach der Wahl die Parteien mit ausreichend Gewicht im Parlament bemühen, untereinander zu Kompromissen mit ihren Positionen zu gelangen. Das ist etwas völlig Natürliches, da unser demokratisches System auf der Kompromissfähigkeit aufbaut. Heute aber tritt bei vielen Parteien eine andere Haltung in den Vordergrund – es geht um Haltungsfragen statt um Inhalte, um den schönen Schein statt um das reale Sein. Aus der Angst, die eingefleischten Wähler würden der Partei „Verrat“ vorwerfen, wächst eine Verweigerungshaltung gegenüber jeglichen Zugeständnissen. Aktuell hat das der FDP-Vorsitzende Christian Lindner mit seinem mitternächtlichen Abbruch der Koalitionsgespräche kenntlich gemacht. Die Sorge, bei Vereinbarungen mit Union und Grünen einige Kernpositionen aufgeben zu müssen, war für ihn wichtiger als die Aussicht, in einer Regierung an der Macht wirklich beteiligt zu sein.
Eine Minderheitsregierung ist abzulehnen, sie bedeutet Instabilität und wäre für ein Land mit dem Gewicht der Bundesrepublik Deutschland eine Schmach.
Das Regieren, die Machtausübung, hat gegenwärtig völlig zu Unrecht einen faden, unattraktiven Beigeschmack. Ganz so, als wäre es eine Sünde, an die „Fleischtöpfe der Macht“ zu treten, eine gestaltende Regierungsmehrheit anzustreben, Posten zu besetzen und Führungsentscheidungen zu treffen. Als müsse sich jeder, der regiert, permanent dafür entschuldigen. Tatsächlich ist Machtausübung aber keine lästige Pflicht, die man anstreben oder der man entsagen kann. Jede demokratische Partei mit Gewicht, die ihre Arbeit ernst meint, muss bereit sein zur Mitverantwortung und zum Kompromiss. Deshalb ist es Unsinn, wenn SPD-Vize Ralf Stegner heute noch behauptet, die 20,5 Prozent bei der Bundestagswahl am 24. September seien „kein Auftrag zum Mitregieren“ gewesen. Die SPD macht es sich zu leicht, nach diesem schlechten Ergebnis den nur taktisch bedingten Schritt in die Opposition (weil man an Angela Merkels Seite ja nur verlieren könne) auf die Wähler abzuwälzen. Als hätten die Wähler der SPD ihr eine Minderheitenrolle zugedacht. Nein, das Gegenteil stimmt: Die SPD ist nach wie vor zweitstärkste Partei in Deutschland, von daher hat sie die verdammte Pflicht, aus staatspolitischer Verantwortung mit der Union über die Bildung der nächsten Bundesregierung zu reden. Jede taktische Überlegung hat gefälligst in den Hintergrund zu treten. Die SPD hätte diese Haltung im Übrigen schon Ende September zeigen müssen – dass sie es nicht tat, hat dem Image dieser Partei erheblich geschadet.
Deshalb sind Neuwahlen zum Bundestag als Ausweg aus der verfahrenen Situation strikt abzulehnen. Es gibt nur zwei Wege. Entweder Union und SPD finden jetzt zu einer gemeinsamen Regierung zusammen – oder aber Union, Grüne und FDP versuchen es noch einmal, diesmal aber richtig und mit dem festen Vorsatz, zu echten Ergebnissen zu finden. Eine Minderheitsregierung ist abzulehnen, sie bedeutet Instabilität und wäre für ein Land mit dem Gewicht der Bundesrepublik Deutschland eine Schmach. Sie ist auch nicht nötig – denn eine Mehrheit muss sich auch so finden, schließlich sind die handelnden Politiker alle erwachsene Leute.
Mail an den Autor dieses Kommentars