Diesen Tag hat er sich ganz anders vorgestellt – nämlich an der Seite seiner Frau. Jürgen Gansäuer, der frühere Landtagspräsident, feiert am 19. Februar seinen 80. Geburtstag. Seine Frau, um einige Jahre jünger als er, war ganz lange Zeit immer an seiner Seite. Sie war seine wichtigste Beraterin, Stütze in allen Lebenslagen, enge Freundin und Partnerin für viele gemeinsame Unternehmungen. Die beiden waren immer sportlich aktiv, sie noch mehr als er. Nun aber, da Jürgen Gansäuer 80 wird, ist seine Frau Christina nicht mehr bei ihm. Sie lebt in einem Pflegeheim, und er besucht sie dort täglich, geht oft mit ihr spazieren und schiebt sie dann in ihrem Rollstuhl. Er kann nie sicher sein, dass sie ihn noch richtig wahrnimmt. Seit einigen Jahren nämlich leidet Christina Gansäuer unter Demenz, der Zustand wird nicht besser.

Viel spricht Jürgen Gansäuer nicht über seine Frau, das sind ja auch viele private Dinge. Aber er, der gelernte Politiker, der seit jeher bestimmte Botschaften hat, die er gern einem größeren Publikum mitteilt, spricht viel über die Demenz als Krankheit. Er hat sich tief in das Thema eingearbeitet – und er hält Vorträge darüber. Es ist seine Art, mit dem eigenen Schicksal umzugehen. Die ganze Tragik drückt sich in einigen Sätzen aus, die Teil eines Referates waren, das Jürgen Gansäuer im September 2023 in Walsrode gehalten hat, später auch in Bückeburg, Verden und anderen Orten.
Er sagte: „Demenz vernichtet das ursprüngliche Ich, welches einstmals ein maßgeblicher Grund dafür war, ein gemeinsames Leben miteinander führen zu wollen. Demenz ist ein täglicher, schrittweiser Abschied vom Wesen. Persönlichkeitsstrukturen verändern sich langsam, aber unaufhörlich und auf bestürzende Weise.“ Christina Gansäuer kann inzwischen nicht mehr gehen und nicht mehr reden, und ihr Mann berichtet von der sehr engen Beziehung, die jetzt für ihn noch viel enger ist als je zuvor. Wenn er sie berührt, spürt er, wie gut ihr das tut. Aber Jürgen Gansäuer kann nicht sicher sein, wie lange seine Frau ihn noch erkennen kann, wie lange seine Frau in ihrer Welt noch zugänglich ist für ihn in seiner. Er sagt: „Pflegende Angehörige müssen lernen, mit Tränen in den Augen zu lächeln. Das ist schwer, ja sogar sehr schwer und gelingt nicht immer.“

Als Politiker weiß Jürgen Gansäuer, wie man die Menschen erreicht – mit Botschaften, die glaubwürdig sind, weil sie einer ehrlichen Einschätzung oder Grundüberzeugung entsprechen. Er war engagierter Haushaltspolitiker in der Albrecht-Zeit, wurde dann Chef der CDU-Landtagsfraktion, war als Oppositionsführer der Widerpart von Ministerpräsident Gerhard Schröder. Dann wurde er Landtagsvizepräsident und Landtagspräsident, ein distanziertes Verhältnis bestand zum CDU-Politiker und späteren Ministerpräsidenten Christian Wulff. Deutlich wurde das oft in der Sozialpolitik, die von Wulff betriebene Kürzung des Landesblindengeldes stieß auf Gansäuers energischen Widerstand. Intensiv kümmerte er sich um die Landesgeschichte.
2008, nach seinem Abschied aus dem Landtag, zog es Gansäuer in die Universität Göttingen, er studierte Geschichte und Kunstgeschichte. Seine Frau war schon etwas enttäuscht, dass es ihn fortzog, hatte sie doch auf mehr gemeinsame Unternehmungen gehofft. Aber dann erkannte sie, wie viel ihm daran lag – und trug es mit. „Sie hat dann die Fenster in meiner Studentenbude ausgemessen und mir Vorhänge genäht“, sagt er, „so war sie eben“. Christina war immer an seiner Seite, immer diejenige, die zu allen Fragen einen klugen Rat geben konnte – und dank ihrer eigenen Sichtweise auch widersprach, wenn er in seinem Eifer einen falschen Weg einschlug. Und voller Enthusiasmus und Energie war Jürgen Gansäuer eigentlich immer, da brauchte er eine Partnerin wie Christina, die ihn manchmal bremste oder bat, den einen oder anderen Gedanken auch noch abzuwägen. Gemeinsame Kinder haben die beiden nicht, und so ist es inzwischen still in Gansäuers Einfamilienhaus. Er werde den Tag nie vergessen, als er Christina ins Heim gebracht hat, erzählt er. Da sei ihm bewusst geworden, dass sie niemals wiederkommen wird. Ein bitterer Tag war das.

Franz Josef Strauß (Mitte) in Laatzen. | Foto: Stadtarchiv Laatzen
Wenn die Erkrankung seiner Frau nicht geschehen wäre – vielleicht würde Gansäuer heute historische Bücher schreiben und geschichtliche Vorträge halten, vielleicht in Vereinen mitwirken. Die Unterstützung von Zuhause hätte er sicher gehabt, jederzeit und unbegrenzt. So aber fesselt auch ihn dieses Thema Demenz. Je intensiver er sich damit befasst hat, desto klarer wurde ihm, dass es eigentlich ein Tabu-Thema ist, dass viele Leute nicht damit umzugehen wissen, dass es ihnen Angst macht. Vier Jahre schon befindet sich Gansäuer in dieser Situation. Er sagt: „Das Verschweigen und Negieren einer demenziellen Erkrankung hat durchgängig dazu beigetragen, dass es in unserer Gesellschaft immer noch Vorbehalte gegenüber demenzkranken Menschen und ihre für Außenstehende oft unverständlichen Verhaltensweisen gibt.“ Und er fügt hinzu: „Das Einigeln in die jeweilige Privatsphäre von Betroffenen hat jedenfalls das Ringen um ein besseres Verständnis für die Belastungen Pflegender bis in unsere Tage hinein eher behindert als gefördert.“
Gansäuer geht noch weiter, warnt vor dem Verdrängen: Viele Angehörige wollten nicht wahrhaben, dass die Betroffenen sich verändern. Die Schritte, die dann nötig wären, würden nicht oder viel zu spät eingeleitet. Das mache alles noch viel schlimmer. Einstmals freundliche, geduldige und liebevolle Menschen verwandelten sich oft zu schwer erträglichen, cholerischen und manchmal auch aggressiven Persönlichkeiten. Für seine Frau gelte das zwar bisher nicht, aber er kenne viele solcher Fälle. Vielen an Demenz erkrankten Menschen gehe die Fähigkeit verloren, beispielsweise ein Dankeschön zu sagen – obwohl doch viele Pflegende das erhofften und ihnen das guttun würde. „Sie werden vergeblich darauf warten, und auch das müssen sie verkraften.“ Jürgen Gansäuer berichtet weiter: „Mein Leben hat sich fundamental verändert. Niemand sagt mehr ,guten Morgen‘, niemand sagt ,guten Abend‘. Die bedrückende Stille und Einsamkeit in meiner Wohnung ertrage ich nur mit Mühe.“
Zu seinem 80. Geburtstag fährt er nach Hahnenklee-Bockswiese, den Ort, wo er geboren wurde. Diesmal wird Christina nicht dabei sein. Sie kann nicht mehr. Sie wird ihn dahin nie mehr begleiten können.