Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr erwartet von der Kirche, dass sie sich angesichts der Corona-Pandemie mit ihren Aktivitäten zurückhält. Das Angebot von Gottesdiensten sei richtig und sinnvoll, aber all das, was die kirchliche Vereins- und Gruppenarbeit angehe, falle zurecht genau so aus wie bei anderen Vereinen außerhalb der Kirche. Bahr, die im Ethikrat der Bundesregierung mitwirkt, äußerte sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick.

Rundblick: Was macht denn eigentlich der Ethikrat? Ist das ein reines Expertengremium?
Bahr: Im Ethikrat sind unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, aber auch religiöse und weltanschauliche Prägungen vertreten. Wobei letztere ebenfalls nur über das bessere Argument Gehör finden. Das Gremium trifft sich monatlich im Plenum für einen Tag in Berlin, zur Zeit natürlich digital. Dazu Arbeitsgruppen, die laufend tagen und über wichtige Einzelfragen sprechen – etwa über die richtige Impfstrategie, den Umgang mit dem Thema assistierter Suizid oder auch mit künstlicher Intelligenz. Dazu kommen öffentliche Veranstaltungen und die Netzwerke mit Ethikräten aus der ganzen Welt. Das macht viel Arbeit, aber auch viel Spaß – und führt zu vielen Lernerfahrungen.
Rundblick: Welche denn?
Bahr: Im Rat reicht es nicht, auf seiner eigenen Haltung zu beharren. Im stundenlangen Austausch um das bessere Argument verändern sich Sichtweisen. Das Wissen und das Reflexionsniveau der anderen verändert mich, meine Lektüren, meinen Zugang zu Themen.
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Rundblick: Nennen Sie ein Beispiel.
Bahr: Der menschenwürdige Umgang mit der Pandemie spielt im Ethikrat seit Monaten eine große Rolle. Nur ist die Menschenwürde schnell hervorgeholt und ein beliebtes Stilmittel in öffentlichen Debatten. Aber was passiert, wenn Freiheit, Lebenschancen und Lebensschutz aufeinander bezogen werden? Da geraten die eigenen Schwerpunkte in Bewegung. Auch die theologischen. Wie rede ich vom Sterben und von der Verletzlichkeit des Lebens? Was ist der Preis von Isolation und Einsamkeit? Die Pflegewissenschaftlerin hat da schon mal andere Zugänge als die Medizinethikerin.
Rundblick: Sie haben sich auch mit der Corona-Impfstrategie beschäftigt. Wie lautet Ihr Rat?
Bahr: Zufall, aber auch Macht und Geld dürfen keine Rolle spielen, wenn Gerechtigkeit und kluge Pandemiebekämpfung zusammenkommen sollen. Zunächst muss es deshalb Prioritäten geben. Hochrisikogruppen, die nachweislich ein mehr als zehnfach so hohes Risiko haben, an Covid19 zu sterben, sollen neben dem medizinischen und pflegerischen Personal die ersten sein, dann natürlich Polizei, Feuerwehr und alle, die für öffentliche Ordnung und Sicherheit sorgen. Aber auch Menschen, die in besonders beengten Räumen leben, müssen schnell geimpft werden. Gleichzeitig gilt mit Nachdruck: die Impfung muss freiwillig bleiben. Es braucht außerdem nicht nur eine Kampagne, sondern auch viel verständliche Information. Die Nachrichten über Impfstoffe sind verheißungsvoll, aber besonders die neue Impfart muss sorgfältig und intensiv auf ihre Folgen und Effekte hin begleitet werden.
Ich erinnere an den kategorischen Imperativ in dieser Lage: Handle stets so, als wärest Du infiziert und müsstest darauf achten, deinen Nachbarn nicht anzustecken.
Rundblick: Manche sagen, wir übertreiben es mit den Schutzvorkehrungen – und treiben damit viele Menschen in Einsamkeit und Verzweiflung. Was meinen Sie?
Bahr: So lange die Krankenhäuser bis an, teilweise schon über die Grenzen ihrer Kapazitäten kommen, braucht es konsequente und nachvollziehbare Schutzvorkehrungen. Ich erinnere an den kategorischen Imperativ in dieser Lage: Handle stets so, als wärest Du infiziert und müsstest darauf achten, deinen Nachbarn nicht anzustecken. Natürlich wird nur ein kleiner Teil der positiv Getesteten schwer krank. Nur wer das ist, weiß man eben nicht. Dazu wird immer mehr über die Langzeitfolgen bekannt. Das ist übrigens auf Dauer sogar ökonomisch relevant. Leider befinden sich viele Menschen in einer kindlichen Gemütsverfassung und denken, ihnen und ihren Bekannten werde schon nichts passieren. Ich finde an der Pandemiebekämpfung so faszinierend, dass Verordnungen und Beschränkungen mit hohen Bußgeldern erlassen werden können – am Schluss haben wir selbst es mit unserem Verhalten in der Hand. Man könnte die Einschränkungen ja auch mal freiheitlich interpretieren: an mir liegt es. Vielleicht wäre es auch an der Zeit, nicht nur auf den Staat zu gucken. Welche Ideen kommen aus der Zivilgesellschaft? Wie kann denen geholfen werden, die einen deutlich höheren Preis als andere zahlen? Nicht Entmündigung, sondern Verantwortung steht im Mittelpunkt der Pandemiebewältigung. Wenn die doch mal ansteckend wäre.
Kirchen sind auch Trosträume für Menschen, die sich nicht als Gläubige bezeichnen würden. Das kirchliche Vereinsleben ist allerdings genauso ausgesetzt wie in allen anderen Bereichen.
Rundblick: Die Kirchen haben besondere Rechte zugestanden bekommen, abgeleitet aus der Freiheit der Religionsausübung, die im Grundgesetz zugesichert worden ist. Wie sollten die Kirchen damit Ihrer Meinung nach umgehen?
Bahr: Die Kirchen müssen verantwortungsvoll damit umgehen. Wir feiern Gottesdienste, während Theater und Museen geschlossen bleiben müssen, auch wenn Künste und Kultur zu einem befragbaren und sinnvollen Leben dazugehören. Seelsorge und Sterbebegleitung müssen möglich sein. Kurze Gottesdienste und Andachten in kleinem Rahmen, das Offenhalten der Kirchen für jedermann, der dort hingehen will, die Begleitung von Menschen in Not, das ist der Beitrag vieler Gemeinden in ihren Nachbarschaften und gilt besonders für Kinder und Jugendliche ohne Räume und Orte, zum Lernen, Spielen, essen und Geborgensein. Kirchen sind auch Trosträume für Menschen, die sich nicht als Gläubige bezeichnen würden. Das kirchliche Vereinsleben ist allerdings genauso ausgesetzt wie in allen anderen Bereichen.
Eine zu starke Fixierung auf das gewohnte Weihnachten wird Enttäuschungen produzieren. Wir werden nicht so feiern können wie 2019.
Rundblick: Und Weihnachten kann dann wieder wie gewohnt stattfinden?
Bahr: Eine zu starke Fixierung auf das gewohnte Weihnachten wird Enttäuschungen produzieren. Wir werden nicht so feiern können wie 2019. Das wäre aber ja auch gar nicht erstrebenswert, denn es geht Weihnachten ja nicht im eine rührselige Weltflucht. Weihnachten ist das Fest, in dem Gott den Menschen nahekommt. Aus dieser Gabe wird die Inszenierung von Glanz, Liebe und Schönheit. Weihnachten soll Hoffnung geben, wie ein Licht die Dunkelheit durchbrechen – das muss in diesem Jahr aus Infektionsschutzgründen in kleinen Zusammenkünften bestehen. Viele Menschen haben übrigens auch in den letzten Jahren schon alleine Weihnachten feiern müssen.

Rundblick: Haben Sie eine Vision für den richtigen Umgang mit Corona? Der Ministerpräsident hat kürzlich geraten, man solle die Behörden informieren, wenn man Verstöße gegen die Abstandsregeln sieht. Ist das richtig?
Bahr: In Hausgemeinschaften und Wohngebieten können die Menschen mehr auf sich und ihre Nachbarn achten, indem sie öfter mal anrufen, bei aller jetzt nötigen Distanz Kontakt halten und sich wechselseitig helfen. Dabei muss sich jeder immer fragen, was er tun kann, damit andere nicht gefährdet werden. Ich sehe das als positive Ermutigung – und werbe auch um Milde gegenüber jungen Leuten, die sich vielleicht nicht gleich an alles halten, was gegenwärtig vernünftig und angemessen ist. Die positive Ermutigung zum richtigen Verhalten ist angezeigt. Dazu habe ich einen immer noch unbeirrbaren Glauben an die Einsichtsfähigkeit. Selbstverantwortung und Solidarität, das sind wunderbare Fähigkeiten, die wir als Menschen haben.