Personalkosten bei S-Bahn vor Gericht: Last-Minute-Beweis sorgt für die Wende

In US-amerikanischen Gerichtsthrillern gehört das standardmäßig dazu, beim Oberlandesgericht (OLG) Celle wird dieser Vorgang hingegen nicht so gern gesehen: Mitten in der mündlichen Verhandlung zum Berufungsverfahren sorgte ein überraschender Beweis für eine 180-Grad-Wende im Streit um gestiegene Personalkosten bei der S-Bahn Hannover. „Ich hätte mir einige Tage Arbeit sparen können, wenn ich das Schriftstück schon früher gehabt hätte“, tadelte der Vorsitzende Richter Andreas Keppler den Rechtsanwalt der beklagten Aufgabenträger Region Hannover, Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG) und Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL). Eine Entscheidung fällte der Senat zwar noch nicht, ließ aber deutlich durchblicken, dass die Chancen für S-Bahn-Betreiber Transdev nach der Verhandlung äußerst schlecht stehen. Den Vorschlag des Richters, die Klage und die Berufung noch schnell zurückzuziehen, um die Prozesskosten zu senken, schlug das Verkehrsunternehmen jedoch aus. Transdev will mit einer schriftlichen Stellungnahme zum Überraschungsbeweis lieber die letzte Möglichkeit nutzen, um die Berufungsverhandlung quasi in der Nachspielzeit zu gewinnen.
Darum geht es: Ausgiebig hatte sich der Senat vor der Verhandlung mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Vertrag zum S-Bahn-Betrieb in der Region Hannover womöglich lückenhaft war und Personalkostensteigerungen nicht ausreichend berücksichtigte – eine Streitfrage mit teuren Konsequenzen für die eine oder andere Partei. Das Landgericht Hannover hatte den Streitwert in erster Instanz noch auf 1,6 Millionen Euro festgelegt. Richter Keppler korrigierte das deutlich nach oben: 10,5 Millionen Euro seien zutreffender. Der Verlust für Transdev könnte nach deren eigenen Angaben sogar noch höher liegen. Im Betreibervertrag, der 2018 geschlossen wurde, hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, die jährlichen Zuschüsse für Personalkosten nach einem Index des Statistischen Bundesamtes zu berechnen. Zwischenzeitlich kamen Auftraggeber und Vertreter der Branche jedoch zu dem Schluss, dass der Index „H49.3“ die enorme Preisentwicklung beim Fahrpersonal nicht ausreichend widerspiegelt, weil dort auch andere Personalbereiche aus dem Verkehrsgewerbe betrachtet werden. In einem gemeinsamen Verein entwickelten sie einen neuen Personalkostenindex, der in allen neueren Verträgen berücksichtigt wird und für die Auftragnehmer deutlich vorteilhafter sein kann. Aus Sicht von Transdev ist klar, dass dieser neue, für sie bessere Index auch für Altverträge gelten sollte. Das Hauptargument des Unternehmens: Hätten beide Seiten schon 2018 gewusst, dass es diesen Index geben wird, hätten sie ihn in den Vertrag damals bereits aufgenommen.

Der Vorsitzende Richter fand diese Argumentation schlüssig. Dass sich die Vertragspartner überhaupt auf einen Personalkostenindex geeinigt hatten, wertete er als Indiz für eine „übereinstimmende Motivation“. „Sie wollten eine Regelung treffen, die zum Ziel hat, die Kostenentwicklung möglichst realitätsnah zu berücksichtigen“, unterstellte Keppler den beiden Streitparteien. Die mündliche Verhandlung änderte an dieser Einschätzung zunächst nichts. Dann aber holte Rechtsanwalt Niels Griem von der Kanzlei „BBG und Partner“ aus Bremen plötzlich ein Schriftstück zum Vergabeverfahren zum „Dieselnetz Niedersachsen-Mitte“ aus dem Jahr 2019 hervor, das er in dreifacher Ausfertigung dabeihatte. Darin stellt die Vergabebehörde auf Nachfrage eines bietenden Verkehrsunternehmens klar, dass der zu diesem Zeitpunkt in Planung befindliche Personalkostenindex definitiv nicht zur Anwendung kommen werde. „Das auf den ersten Blick überzeugende Argument wird dadurch entkräftet“, stellte Keppler daraufhin fest. Transdev-Rechtsanwalt Tim Jakobs von der Münchner Kanzlei KJK, die Chefin der Rechtsabteilung und die übrigen Vertreter des Unternehmens wurden von dem Beweisstück kalt erwischt und reagierten verärgert. „Wir haben das übersehen“, entschuldigte sich Rechtsanwalt Griem, der von der Region Hannover per Ausschreibung mit der Rechtsvertretung beauftragt worden war, für die späte Einreichung.
Der Urteilsspruch steht zwar noch aus. Es sieht jedoch so aus, als würde Transdev auf den unerwarteten Kostensteigerungen beim Personal sitzen bleiben. Nach Angaben des Unternehmens sind für die Mehrkosten nicht nur die hohen Tarifsteigerungen, sondern insbesondere auch zusätzliche Urlaubsregelungen verantwortlich, die den Einsatz von wesentlich mehr Personal erforderlich machen würden. „Die Gewerkschaften treiben die ganze Branche vor sich her, man kann schon fast von einem Tarifdiktat sprechen“, kritisierte Jakobs mit Blick auf die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Richter Keppler wies allerdings darauf hin, dass die Mehrkosten für Transdev offenbar nicht so hoch sind, dass für das Unternehmen eine Störung der Geschäftsgrundlage vorliege. „Für eine Unzumutbarkeit des Vertrags ist zu wenig vorgetragen worden“, sagte er. Außerdem merkte Keppler an, dass das Unternehmen für ein vermeintliches „Unterangebot“ bei der Ausschreibung selbst verantwortlich sei. Die Landesnahverkehrsgesellschaft kann indes aufatmen: Die Landesbehörde kommt wohl nicht nur in diesem Fall um höhere Personalkostenzuschüsse herum. Von einer gerichtlich verordneten Änderung der Personalkostenindizes wären womöglich auch alle anderen Betreiberverträge betroffen, die die LNVG vor 2020 geschlossen hat. Dem Land Niedersachsen würden in diesem Fall Mehrkosten in zweistelliger Millionenhöhe drohen.
Dieser Artikel erschien am 19.02.2025 in der Ausgabe #033.
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