2. Juni 2021 · Justiz

Opferschutz: Was passiert, wenn etwas passiert?

Ein Verkehrsunglück, eine Amokfahrt oder ein Terroranschlag mit zahllosen Verletzten und Toten – im besten Fall treten all diese Ereignisse gar nicht erst ein. Sollte es dennoch einmal dazu kommen, müsse sich die Regierung zügig und unbürokratisch um die Opfer kümmern. Zu dieser Erkenntnis war die Bundesregierung in Absprache mit den Landesregierungen nach dem Terroranschlag vom Berliner Breitscheidplatz 2016 gekommen. Seit gut anderthalb Jahren ist deshalb Thomas Pfleiderer, früherer Oberstaatsanwalt aus Hildesheim, als Beauftragter der Landesregierung für den Opferschutz zuständig. Gestern stellte er seinen ersten Jahresbericht vor.

Niedersachsens Opferschutz-Beauftragter Thomas Pfleiderer (Vordergrund) stellte in Begleitung von Justizministerin Barbara Havliza (CDU) seinen ersten Jahres Bericht vor. - Foto: nkw

Zu seinen ersten Aufgaben gehörte es, ein Konzept zu entwickeln, wie auf solche sogenannten Großschadensereignisse regiert werden soll. Denn dass ein solcher Fall schneller eintreten kann als man denkt, zeigte erst im vergangenen Jahr das Beispiel von Pfleiderers Amtskollegen in Hessen. Dieser musste seine Tätigkeit spontan zwei Monate früher antreten als geplant, nachdem es zu dem menschenfeindlichen Terroranschlag von Hanau gekommen war.


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Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU) erinnerte gestern noch an andere Ereignisse, die sich ebenfalls in das Gedächtnis der Bevölkerung eingebrannt haben: etwa an die Amokfahrt von Trier im vergangenen Jahr, aber auch das Zugunglück von Eschede 1998 oder die Loveparade-Katastrophe von Duisburg von 2010. Weiter gefasst können aber auch die Taten des Krankenpflegers aus Delmenhorst, der sukzessive Menschen umgebracht hat, oder der Missbrauchsfall vom Campingplatz in Lügde zu den Großschadensereignisse gezählt werden.

Neues Konzept für schnelle Opferhilfe

Was würde nun geschehen, wenn es in Niedersachsen zu einer derartigen Katastrophe mit einer Vielzahl von Opfern käme? Pfleiderer schilderte gestern, dass zunächst geklärt werden würde, ob das Ereignis von nationaler Tragweite sei, etwa im Falle eines Terroranschlags. Dann würde der Generalbundesanwalt der Ermittlungen übernehmen und analog dazu der Bundesbeauftragte für den Opferschutz seine Arbeit beginnen. Wäre dem nicht so, würde sich der Landesbeauftragte für den Opferschutz ein Bild vom Ausmaß der Lage machen und es würde rasch eine Notfall-Hotline freigeschaltet. Dort würden dann geschulte Mitarbeiter der dezentral über das Land verteilten Opferschutz-Stellen die Anfragen von Betroffenen und Angehörigen entgegennehmen. Pfleiderer selber würde im Falle eines Anschlags oder Unfalls an den Ort des Geschehens reisen und – sofern das gewünscht wird – persönlich zu den Betroffenen Kontakt aufnehmen. Dabei sei es wichtig, zunächst als eindeutiger, zentraler Ansprechpartner in Erscheinung zu treten, erläuterte Pfleiderer.

Es ist wichtig, dass sie sich nicht erst durchtelefonieren müssen, sonst wird aus Trauer schnell Wut.

Zudem müssten im weiteren Verlauf die zahlreichen Möglichkeiten des Opferschutzes aufgezeigt werden. Diese reichten von einer Trauma-Ambulanz über Hilfen bei Beerdigungskosten bis hin zur psychosozialen Prozessbegleitung, sollte es in den folgenden Monaten oder Jahren zu Gerichtsverhandlungen kommen. Pfleiderer regt darüber hinaus an, nach einem Großschadensereignis runde Tische oder Gesprächskreise für Betroffene, deren Angehörige und auch die beteiligten Behörden einzurichten. Mit etwas Abstand gehe es dann auch um die Prüfung, ob eventuell eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Vorfalls geplant werden sollte. „Es geht darum, möglichst schnell und unbürokratisch zu reagieren. Die Opfer dürfen nicht das Gefühl bekommen, alleingelassen zu werden“, fasste Havliza die Bestrebungen des neuen Konzeptes zusammen. „Es ist wichtig, dass sie sich nicht erst durchtelefonieren müssen, sonst wird aus Trauer schnell Wut.“

Netzwerk stärken, Polizei besser einbinden

In der weiteren Arbeit des Opferschutzbeauftragten werde es nun verstärkt darum gehen, die bereits bestehenden Angebote in Niedersachsen besser miteinander zu vernetzen und insgesamt bekannter zu machen, erläuterte Pfleiderer. Im Flächenland Niedersachsen war der Opferschutz bislang rein dezentral aufgebaut, die Stiftung Opferschutz unterhält elf Anlaufstellen angedockt an den Standorten der Landgerichte. Zusätzlich gibt es ehrenamtliche Angebote etwa vom „Weißen Ring“. Pfleiderer, der in den zurückliegenden Monaten versucht hat, zu allen Beteiligten Kontakt aufzunehmen, schilderte nun, dass teilweise die Beteiligten nichts von den Angeboten der jeweils anderen gewusst haben. Da soll die Zentralstelle nun gegenwirken.

Zudem möchte Pfleiderer die Opferschutz-Arbeit fest in die Ausbildung von Polizei und Justiz etablieren. Auf Bundesebene will sich Pfleiderer mit Havlizas Unterstützung dafür einsetzen, dass die Informationsschreiben an die Opfer von Straftaten, die von der Polizei nach einer Meldung ausgegeben werden, leichter verständlich und einfühlsam gestaltet werden.

Der Bedarf nach Hilfestellungen für Opfer von Straftaten wächst derweil. Im vergangenen Jahr habe die Stiftung Opferhilfe 2400 Menschen betreut oder beraten, berichtete Ministerin Havliza gestern. Knapp 1650 davon waren im vergangenen Jahr erstmalig in Kontakt mit dem Angebot. Einen Corona-bedingten Rückgang der Fallzahlen habe es beim Opferschutz nicht gegeben, wusste Pfleiderer zu berichten. Er selber wurde in seinem ersten Jahr in dieser Funktion von etwa 60 Personen direkt angesprochen.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #103.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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