Niedersachsens Handwerk erwartet schlimmste Krise der Nachkriegszeit
Egal ob in der Corona-Pandemie oder in der globalen Finanzkrise 2009: Das mittelständische Handwerk hat sich stets als Fels in der Brandung erwiesen. Der von der Energiekrise ausgelöste wirtschaftliche Abschwung droht jedoch auch Bäcker, Kraftfahrzeugmechaniker, Friseure oder Dachdecker mitzureißen. „Die Rezession wird erstmals auch hier von Beginn an voll durchschlagen. Das Handwerk könnte diesmal als Stabilitätsmotor in der Krise ausfallen“, sagt Peter Karst, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Hannover (HWKH). Der aktuelle Konjunkturbericht lässt Schlimmes ahnen. Während die aktuelle Geschäftslage von den Handwerksbetrieben noch als gut bewertet wird, sind die Zukunftserwartungen so düster wie nie. „Erstmals in der Nachkriegszeit ist mit einer Beschäftigungssicherheit im Handwerk nicht mehr zu rechnen“, sagt Karst. Jeder zehnte Betrieb sehe sich gezwungen, Arbeitskräfte abzubauen.
„Das muss ein Weckruf für jeden Politiker sein. Die Rückmeldung aus den Betrieben zeigt deutlich, dass es fünf nach zwölf ist“, betont Handwerkskammerpräsident Thomas Gehre. Der Unternehmer und Elektroinstallateurmeister aus Marklohe (Landkreis Nienburg/Weser) ruft Bund und Land dazu auf, nicht nur Industrie-, sondern auch Mittelstandspolitik zu machen. Dass Gas- und Strompreisbremse erst ab März 2023 greifen sollen, bezeichnet Gehre als „schlicht nicht hinnehmbar“. Die Handwerkskammer fordert, dass auch die Wintermonate Januar und Februar abgedeckt werden.
„Der handwerkliche Mittelstand muss jetzt bitte spürbar entlastet werden, die Hilfsmaßnahmen dürfen nicht nur bei den Lauten und Großen ankommen“, sagt Karst. Die Hilfen dürften nicht nur auf große Betriebe zugeschnitten sein, sondern auch auf Mikrounternehmen und Soloselbstständige. Der durchschnittliche Handwerksbetrieb habe eine Größe von 5,8 Beschäftigten. Das von Ministerpräsident Stephan Weil angekündigte 1-Milliarde-Euro-Entlastungspaket begrüßt der HWKH-Hauptgeschäftsführer zwar, er sieht aber vor allem die Bundesregierung und die EU in der Pflicht, zu helfen. Wichtig sei es auch, die Betriebe liquide zu halten. In diesem Zusammenhang müssten die Zinskonditionen der staatlichen Förderbank auf den Prüfstand. „Die KfW hat vor kurzem ihre Zinsen nach oben angepasst“, sagt Matthias Lankau, Chef-Unternehmensberater und Abteilungsleiter für Wirtschaftspolitik bei der Handwerkskammer. Insbesondere die Zinsen für Notfallkredite müssten „im Zaum gehalten werden“.
Erwartungsindex bricht im ländlichen Raum dramatisch ein
Beim Blick auf die verschiedenen Regionen in der Handwerkskammer Hannover fällt auf, dass die Sorgen im ländlichen Raum sogar noch etwas größer sind als in urbanen Gebieten. Während in der Stadt Hannover der Erwartungsindex „nur“ von 122 auf 80 Punkte gesunken ist, sind die Zukunftsaussichten in der Region Hannover von 110 auf 64 Punkte gefallen. Auch im Landkreis Diepholz (62), der teilweise von Nähe zu Bremen profitiert, ist die Stimmung nicht so ganz schlecht wie etwa in den Landkreisen Nienburg/Weser (55), Schaumburg (51) oder Hameln-Pyrmont (46). Trauriger Rekord: Im Weserbergland ist das Geschäftsklima sogar um 53 Punkte eingebrochen.
Laut Lankau liegen diese regionalen Unterschiede vor allem im Bauhandwerk begründet, dem die Aufträge für Einfamilienhäuser wegbrechen. „Es gibt immer mehr Menschen, die härter kalkulieren müssen. Der private Neubau bricht ein“, sagt der HWKH-Experte. Während die Bauzinsen im ersten Quartal noch bei 2,5 Prozent gelegen hätten, würden sie mittlerweile schon die 4-Prozent-Marke überschreiten. In der Landeshauptstadt, wo kaum Einfamilienhäuser, sondern fast ausschließlich Großprojekte gebaut werden, sind die Bauhandwerksbetriebe deswegen noch relativ zuversichtlich.
Krisenstimmung in (fast) allen Gewerken
Bei den Bäckereien, Fleischereien und Konditoren ist die Energiekrise bereits mit voller Wucht angekommen. „Die Nahrungsmittelbranche leidet wie kein anderes Gewerk unter den Energiepreissteigerungen“, sagt Lankau. Schon jetzt berichtet jeder dritte Betrieb von Umsatzrückgängen, fast die Hälfte der Firmen sehe sich gezwungen, Beschäftigung zu reduzieren – über alle Regionen hinweg. „Sowas habe ich in 20 Jahren noch nicht erlebt“, kommentiert Karst. Im Dienstleistungshandwerk vermelden sogar 57 Prozent aller Betriebe von Umsatzeinbußen. „Friseure und Kosmetiker waren auch in der Corona-Pandemie in Bedrängnis. Jetzt sind sie aber in der vordersten Front derjenigen, die merken, dass die Konsumneigung zurückgeht“, sagt Lankau. Das bekomme derzeit auch das Kraftfahrzeughandwerk zu spüren, wo es insbesondere Einbußen beim Werkstattgeschäft gebe. Viele Kunden würden Wartungen und Reparaturen aufschieben.
Im Gesundheitshandwerk gebe es wiederum ein strukturelles Problem. Optiker, Hörgerätehersteller oder Sanitätshäuser können die aktuellen Kostensteigerungen – wenn überhaupt – nur mit Verzögerung weitergeben und geraten deswegen in Bedrängnis. Zwar melden 90 Prozent der Betriebe höhere Einkaufspreise, aber nur 13 Prozent hätten auch ihre Verkaufspreise erhöht. „Das ist im Vergleich zu anderen Branchen sehr, sehr wenig. Die Betriebe sind an die Preisvorgaben der Krankenkassen gebunden“, erläutert Lankau. Weitgehend positiv ist die Stimmung nur noch in einem Gewerk: Das Ausbauhandwerk vermeldet weiterhin gute Umsätze und erwartet auch Auftragssteigerungen. Hier rechnet nur jeder fünfte Betrieb damit, dass sich die Geschäftslage zum Jahresende verschlechtert.
Dieser Artikel erschien am 28.10.2022 in der Ausgabe #191.
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