Volksbegehren schwebt über dem Artenschutz-Pakt
So ganz geheuer ist allen Beteiligten wohl nicht bei dem, was sie gestern feierlich in einer dörflichen Atmosphäre, auf dem Rübenacker von Heinz Widdel in Wunstorf-Mesmerode (Region Hannover) unterzeichnet haben. Der Ministerpräsident, die Agrarministerin und der Umweltminister, die Vorsitzenden des BUND und des Nabu, der Präsident der Landwirtschaftskammer und ein Vertreter des Landvolk-Präsidenten verpflichten sich in einer zehnseitigen Vereinbarung zu weitgehenden Schritten für mehr Arten- und Naturschutz in Niedersachsen. Darin sind nun mehrere feste Zusagen enthalten, über Änderungen mehrerer Landesgesetze und finanziellen Ausgleich an die Landwirte einen erheblichen Fortschritt im Schutz der Artenvielfalt zu erreichen.
Dennoch steht das ganze Vorhaben weiterhin unter einem Damoklesschwert: Parallel laufen nämlich die Vorbereitungen für ein Volksbegehren weiter – und wenn dieses Erfolg haben sollte, was sich bis Mitte November zeigen dürfte, könnte eine Welle weiterer Unterschriftensammlungen in Gang kommen und einen Volksentscheid erzwingen. Am Ende wären dann vermutlich die Auflagen, die den Bauern drohen, wohl viel härter als die nach dem gestern besiegelten Plan.
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Ist das, was die Landesregierung mit viel Lob garniert gestern als „den niedersächsischen Weg“ angepriesen hat, also in Wahrheit eine Form von Nötigung der Politik durch eine Bürgerinitiative? Ganz vom Tisch zu wischen ist diese Einschätzung nicht – und das hat historische Gründe. Vor wenigen Jahren war eine ähnliche Bewegung in Bayern sensationell erfolgreich und hatte binnen weniger Wochen 1,7 Millionen Unterstützer mobilisiert. So sah sich die Landtagsmehrheit in München verpflichtet, das Anliegen unverändert zu übernehmen und auf diesem Weg eine Volksabstimmung zu vermeiden.
Etwas ähnliches könnte auch in Niedersachsen geschehen, denn die Rechtsvorschriften gleichen sich: Im ersten Schritt, er dauert bis 13. November, müssen die Initiatoren des hiesigen Volksbegehrens 25.000 Unterstützer auf ihre Seite ziehen. Wenn Anfang Juni die Unterschriftensammlungen starten, könnte diese Zahl schon recht bald zustande kommen. Die bayerischen Erfahrungen jedenfalls sprechen dafür. Nach diesem 13. November muss die Landesregierung über die Zulässigkeit des Begehrens entscheiden. Wird diese bestätigt, womit allgemein zu rechnen ist, bliebe ein weiteres halbes Jahr, um zehn Prozent der Wahlberechtigten zu mobilisieren – das sind die Unterschriften von 610.000 wahlberechtigten Niedersachsen. Zwar bedeutet das einen riesigen organisatorischen Aufwand, aber auch hier zeigt Bayern, dass solche Verläufe keineswegs illusorisch sind.
Das aber setzt die Landespolitik in Niedersachsen ganz automatisch unter Druck: Falls bis Mitte 2021, also wenige Wochen vor der Kommunalwahl, Massen das Artenschutz-Volksbegehren unterstützen sollten, hat der Landtag nur noch eine Wahl: Er kann das Anliegen der Initiatoren komplett und ohne Abstriche übernehmen – oder muss eine Volksabstimmung ansetzen, die dann frühestens parallel zur Kommunalwahl 2021, womöglich auch erst parallel zur Landtagswahl ein Jahr später stattfinden könnte. Deshalb ist das Interesse der Koalition aus SPD und CDU auch so groß, das Plebiszit am besten gar nicht erst geschehen zu lassen, es im Keim zu ersticken. Aber ist das eine realistische Perspektive?
Ein großer Umweltverband, der Naturschutzbund (Nabu), hat gestern sowohl die Absichtserklärung von Verbänden und Regierung unterschrieben – als auch das Volksbegehren angeschoben. Nabu-Vorsitzender Holger Buschmann sieht denn auch nach wie vor gute Gründe, zweigleisig zu arbeiten: „Noch wissen wir ja nicht, wie verbindlich die Regeln des ,niedersächsischen Weges‘ am Ende werden.“ Der Teufel stecke im Detail. So enthält die gestern in Mesmerode unterzeichnete Vereinbarung zwischen Landesregierung und Verbänden einige Ansagen, deren Wirkung sich erst zeigt, wenn man den konkreten Gesetzesbeschluss hat:
Randstreifen: Entlang von Bachläufen, Kanälen und Flüssen sind unterschiedliche Zonen vorgesehen, die frei von Pflanzenschutz und Düngung sein sollen – zwischen zehn und drei Metern. Wenn aber Randstreifen von fünf oder drei Metern „aus agrarstrukturellen Gründen unzumutbar wären“, heißt es im Text der Vereinbarung, könne das Umweltministerium über eine Ausnahmeregelung die Breite auf einen Meter verringern. Was, fragen sich die Naturschützer, sind nun „agrarstrukturelle Gründe“? Je nachdem, ob man es eng oder weit auslegt, kämen wenige Ausnahmen entlang etwa von Entwässerungskanälen, oder auch ganz viele in Betracht.
Grünland: Im niedersächsischen Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz soll Dauergrünland als gesetzlich geschütztes Biotop aufgenommen werden. Für bestimmte Flächen soll dann ein Umbruchverbot gelten, das nur in begründeten Ausnahmefällen nach behördlicher Erlaubnis umgangen werden kann – alle zehn Jahre wäre dann ein Umbruch erlaubt. Flache, bis zu zehn Zentimeter tiefe Auflockerungen sollen ebenfalls nur nach Genehmigungen erlaubt werden können. Wie genau das Grünland dann in diesen Ausnahmefällen bewirtschaftet werden soll, hätten die Naturschutzverbände gern noch detaillierter festgelegt. Ihnen ist die Angabe noch zu allgemein, während manche Landwirte darin schon jetzt eine zu starke Beschränkung ihrer Arbeit sehen.
Pflanzenschutz: Viele Schritte für Pflanzenschutzmittel und Düngung, die in der Vereinbarung enthalten sind, klingen – wie auch die Vorgaben für Randstreifen und Grünland – im Entwurf der Initiatoren des Volksbegehrens wesentlich strenger und konsequenter. Noch dazu kommt das Risiko, dass nach dem in Mesmerode geschlossenen Vertrag mindestens das Wasser- und das Naturschutzgesetz angepasst werden müssen, womöglich noch weitere Gesetze, ein „Aktionsprogramm Insektenvielfalt“ soll auch beschlossen werden, ein „Wiesenvogelschutzprogramm“ ebenfalls. Da entsprechende Beschlüsse im Landtag in den überwiegenden Fällen aber am Ende nicht so ausfallen, wie sie die Landesregierung vorher in ihre Gesetzentwürfe geschrieben hat, stehen wohl noch jede Menge politische Kraftproben in diesen Fragen bevor. Mit dem drohenden Volksbegehren im Hintergrund haben die Naturschutzverbände zwar ein Druckmittel, die Politik zu lenken – doch auf der anderen Seite ist neben dem Landvolk auch die Gruppe „Land schafft Verbindung“ gegen zu viel Auflagen für die Landwirtschaft aktiv. Dass diese Gruppierung ebenfalls mobilisieren kann, beweist sie seit Monaten.
In Mesmerode erklärte Umweltminister Olaf Lies (SPD), man wolle „in drei Monaten durch sein“ im Landtag mit den Gesetzen und Verordnungen, die Folge des Vertrages sein sollen – also auf jeden Fall vor Beginn der heißen Phase des Volksbegehrens. Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) erklärte, es sei „eine Herausforderung“, jetzt die beiden Regierungsfraktionen und die vielen bisher noch nicht beteiligten Fachverbände einzubeziehen. Bisher, erklärte Lies, habe der Vorteil darin ja gelegen, dass man in relativ kleinem Kreis nicht-öffentlich viele der festgelegten Schritte nicht habe zerreden können und wollen. Ministerpräsident Stephan Weil unterstrich das noch einmal: „Wir wollen eine vielfältige, gesunde Natur – und wir wollen Agrarland bleiben.“
Unterdessen hat Nabu-Chef Buschmann noch einmal die Dramatik beschrieben, in der sich Niedersachsen derzeit befindet: Die Anzahl der Bekaninen, einer früher verbreiteten Wiesenvogelart, ist in den vergangenen 30 Jahren hierzulande um 80 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Uferschnepfen um 70 Prozent. „Es dürfte alles noch viel schlimmer sein, als wir es bisher erahnen“, meint Buschmann. So stamme die „rote Liste“ der gefährdeten Insektenarten inzwischen auch schon aus den achtziger Jahren, eine neue Kartierung sei überfällig. Immerhin: In der gestern unterschriebenen Vereinbarung ist dieser Punkt auch enthalten. (kw)