Ist die Energiewende eine Belastung oder ein Booster für den Standort Deutschland? Über diese Frage haben Spitzenvertreter von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft am Dienstag bei den Niedersächsischen Energietagen in Hannover diskutiert. „Wenn wir es klug angehen, ist die Energiewende ein sehr starker Booster. Wenn wir’s unklug machen, kann es ins Gegenteil kippen. Und wir haben gemerkt, dass wir an ganz vielen Stellen nachbessern müssen“, sagte EWE-Chef Stefan Dohler, der auch Präsident des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) ist. Der Vorstandsvorsitzende des größten niedersächsischen Energiekonzerns wirbt gern mit der Aussage „Der Nordwesten ist der Ruhrpott von morgen, nur in sauber“. Ein Selbstläufer ist das aber nicht: Die hohen Energiepreise bleiben eine Herausforderung. „Wir können die Kosten dämpfen, aber zu sagen: ‚Morgen kostet alles die Hälfte‘ – das ist eine Illusion“, stellte Dohler klar.

Um zu wettbewerbsfähigen Energiekosten zu kommen, fordert Dohler eine Kurskorrektur. „Jeder macht zu sehr seins“, kritisierte er das bisherige Zusammenspiel aller Akteure. „Wir müssen sehen, wie wir das System so optimieren, dass es Regeln gibt, die ein Gesamtoptimum herbeiführen. Dafür braucht es keinen zentralen Markt, aber einen zentralen Orchestrator – und in dieser Rolle sehe ich die Bundesnetzagentur.“ Die Behörde müsse dafür sorgen, die „bestehende Flexibilität des Stromnetzes auszureizen“. Außerdem erwartet Dohler von ihr Hilfe, um die Flut der Anfragen für Großbatteriespeicher an die Netzbetreiber handhabbar zu machen. „Wir verstopfen uns mit Speicheranfragen“, warnte der Konzernchef. Problematisch ist das, weil beim Netzanschluss das sogenannte Windhund-Prinzip gilt: Netzbetreiber müssen Anfragen nach Eingangsdatum abarbeiten, dürfen aber nicht priorisieren. So kann es passieren, dass der Netzanschluss für ein Rechenzentrum oder eine Industrieerweiterung blockiert wird, weil vorher Speicheranfragen abgearbeitet werden müssen – obwohl viele davon nie realisiert werden. Bundesweit liegen Anfragen für über 720 Gigawatt Speicherkapazität vor, im EWE-Gebiet ist die Quote noch ungünstiger. Zudem erneuerte Dohler seine Forderung nach dem Abbau der rund 25.000 Rechtsnormen, die für den Energiemarkt gelten. „Das ist ein absurdes Volumen“, stöhnte er. Und er forderte die Politik auf, die Finanzierung der Energiewende sicherzustellen – zum Beispiel über die Bereitstellung von Bürgschaften.
„Ein Batteriespeicher, der einfach nur Marktentwicklungen abkassiert, belastet uns alle. Wir brauchen jetzt klare Kriterien, die systemdienlich sind“, sagte Umwelt- und Energieminister Christian Meyer. Der Grünen-Politiker schlug ein bundesweites Ranking in Form eines Punktesystems vor, um die Netzanschlüsse künftig zu priorisieren. „Wenn der Bund diese Kriterien nicht hat, müssen wir die niedersächsisch entwickeln“, so Meyer. Außerdem brachte er eine Gebühr oder Einlage für derartige Anfragen ins Spiel, um die Zahl der nicht ernstgemeinten Großbatteriespeicheranfragen zu reduzieren. Dass die Energiewende einen Booster für den Standort Niedersachsen darstellt, sieht Meyer derzeit nur bedingt gegeben. Die Bauwirtschaft profitiere zwar vom Netzumbau, ein großer Standortvorteil sei aber kaum zu spüren. „Wir müssen noch mehr tun, damit das bei Wirtschaft und Verbrauchern auch mit niedrigeren Kosten ankommt“, betonte Meyer. Genauso wie Dohler sieht auch er die Notwendigkeit für „systemdienlichere Rahmenbedingungen“ im Energienetz. „Momentan überlassen wir es dem Wildwuchs. Es muss aber darum gehen, dass wir im System insgesamt kosteneffizient sind“, sagte Meyer.
Außerdem sorgt sich der Energieminister um die Wasserstoffwirtschaft, die trotz guter Voraussetzungen nicht in Fahrt kommt. „Wir können die Preise für Wasserstoff deutlich senken“, zeigte sich Meyer überzeugt und forderte eine radikale Vereinfachung der EU-Vorgaben. „Wenn ich aus Strom Wasserstoff mache, dann habe ich grünen Wasserstoff“, schlug der Grünen-Politiker als Neuregelung vor. Beim EWE-Chef rennt er damit offene Türen ein. Mit Herstellungskosten von bis zu 8 Euro pro Kilogramm ist grüner Wasserstoff aus Europa derzeit kaum wettbewerbsfähig. „Wir können unter 5 Euro kommen und dann fliegt das Thema auch“, sagte Dohler. Neben einfacheren Vorgaben fehlten aber auch Leitmärkte und Anreize für die Wasserstoffproduktion.
Bianca Beyer, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN), sieht bei der Schaffung solcher Leitmärkte auch die Landesregierung in der Pflicht. Grüner Stahl, der nur mit Wasserstoff hergestellt werden kann, sei bei Ausschreibungen immer noch kein Thema. „Hier muss das Land in Vorleistung gehen“, forderte Beyer. Einen Energiewende-Booster für die Wirtschaft könne sie nicht erkennen – dafür aber hohe Energiepreise und große Herausforderungen bei der Ressourcensicherung. „Wir werden massive Probleme haben, wenn der Wasserstoffhochlauf nicht kommt“, warnte sie. Mehrere Unternehmer hätten ihr bereits gesagt: „Wenn ich den Wasserstoff, den ich brauche, nicht bekomme, dann mache ich den Standort dicht.“ Zudem forderte Beyer mehr Anstrengungen, um Betriebsansiedlungen in Niedersachsen möglich zu machen. „Mein großer Traum sind Plug-In-Gewerbegebiete“, sagte sie. Dabei handelt es sich um Gewerbeflächen, in denen von der Verkehrsanbindung über den Energieanschluss bis zur Ausgleichsfläche schon alles mitgedacht wurde und Unternehmen umgehend mit dem Bau einer Werkhalle beginnen können.
Wenig Hoffnung auf sinkende Energiekosten machte Matthias Otte von der Bundesnetzagentur (BNetzA). „Die Netzentgelte werden steigen. So viel effizienter können die Netzbetreiber angesichts ihrer Investitionssummen nicht werden“, sagte der Abteilungsleiter für den Stromnetzausbau. Durch die Digitalisierung der Netze sieht Otte zusätzliche Belastungen auf die Netzbetreiber zukommen: „Das wird erstmal anstrengend und auch finanziell herausfordernd, ist aber ein Projekt, das auf die Zukunft einzahlt.“ Zumindest eine gute Nachricht hatte er aber auch mitgebracht: „Wir haben den Flaschenhals der fehlenden Genehmigungen aufgelöst. Es sind ungefähr 95 Prozent der Leitungen beim Bund genehmigt und bei den Ländern sieht es ähnlich aus.“ Dafür steht nun die Anfragenflut für Batteriespeicher ganz oben auf der Agenda. „Wir hatten in den 2000er-Jahren in der Offshore-Windindustrie ein ähnliches Problem“, berichtete Otte. Gemeint ist die Zeit, in der die Bundesnetzagentur durch klare Zuständigkeiten und feste Anschlusspläne den Investitionsstau bei der Offshore-Netzanbindung auflöste. Auch für das Großbatteriespeicherproblem schlägt er deshalb keine komplizierte Gesetzesänderung, sondern eine „minimalinvasive Lösung“ vor.
Für Optimismus sorgte Tobias Averbeck, christdemokratischer Bürgermeister der Gemeinde Bakum im Landkreis Vechta. Nachdem 2018 ein bereits fertig geplanter Bürgerwindpark im letzten Moment vor Gericht gestoppt worden war, hat das Thema jetzt Rückenwind: Die 7000-Einwohner-Gemeinde konnte 270 Hektar und damit fast vier Prozent des Gemeindegebiets als Windvorrangfläche ausweisen. „Ich hatte fünf kritische Stimmen – das war’s“, berichtete Averbeck. Den Meinungsumschwung führte er auf das Landesbeteiligungsgesetz und die neuen Anstrengungen der Gemeinde zurück, für Aufklärung und Konsens zu sorgen. Ein neuer Bürgerwindpark hat bereits grünes Licht erhalten – und ist schon finanziert. „Innerhalb von drei Monaten war das Geld da. Das ist die DNA des Oldenburger Münsterlandes: Die Leute wollen teilhaben, die wollen dabei sein“, sagte Averbeck. Auch das neue Gewerbegebiet mit 7,5 Hektar Fläche ist vergeben. Ganz sorgenfrei ist die Klimakommune, die mehr Strom produziert als sie verbraucht, jedoch nicht. „Der Flaschenhals Netzanschluss belastet uns“, sagte Averbeck und forderte verlässlichere Rahmenbedingungen. „Da hat man zwei Jahre gute Arbeit geleistet, dann kommt der nächste und sagt: Das habt ihr aber vergessen.“ Auch er als Kommunalverwalter muss feststellen: „Bürokratie ist eine unheimliche Hemmschwelle.“


