Vielleicht war es der viele Regen, der die Gemüter abgekühlt hat. Oder die Aussicht, dass der sommerliche Ausnahmezustand sich dem Ende zuneigt und demnächst wieder ein seriöser Auftritt im Büro gefragt ist. Auf jeden Fall: Es gab schon eine Weile keinen Brauchtumsärger mehr. Oder habe ich etwas übersehen? Hier in Hannover sind wir ins Schützenfest gestartet mit der Nachricht, dass zwei Mitglieder der „Hildesheimer Junggesellenkompanie“ eine Polizistin zwangsweise auf die Wangen geküsst haben. Auch nachdem die Frau Anzeige erstattet hatte, schien den Herren noch nicht klar geworden zu sein, was sie falsch gemacht hatten.

Kurz darauf berichtete der NDR über einen Brauch in der Südheide namens „Katerstrich“. Dabei schleicht man in der Nacht vor dem Schützenfest durchs Dorf und schreibt mit abwaschbarer Kalkfarbe mehr oder minder lustige Botschaften vor fremde Türen. Zum Beispiel: „Hier wird nicht nur das Horn geblasen.“ Brüller, oder? Gar nicht lustig fand die einzige Grünenpolitikerin in einem Gemeinderat, dass 2023 in der Ortsausfahrt in riesiger weißer Schrift „Grüne raus!“ stand. Im Jahr darauf wurden die Hater noch expliziter. „Angst?“, stand an der gleichen Stelle, dazu ihre Initialen. Die Frau wohnt inzwischen nicht mehr in diesem Ort, berichtet der NDR. Niedersachsen, was ist denn mit dir los?
Im vergangenen Winter hatten sich schon am „Klaasohm“ auf Borkum die Geister geschieden. Frauen zu schlagen, nur weil man sie an diesem Abend auf der Straße antrifft, ist ein No-Go, sagte die Politik, doch Inselbewohnerinnen demonstrierten für die Rettung der Tradition. Auch die Rundblick-Redaktion schwankte zwischen leisem Spott und Angefasstsein. In einer Zeit, als man noch nicht jeden, den man doof fand, auf X dissen konnte und die Erwartung war, dass man sein ganzes Leben mit einer einzigen Partnerin oder Partner verbrachte, brauchten Menschen offensichtlich ein Überlaufventil. Beim Karneval, Schützenfest oder Krampuslauf hingen kurz mal die Zügel locker. Schöne Idee, nur dumm für Minderheiten und Frauen (bei denen man immer noch darauf hinweisen muss, dass sie gar keine Minderheit sind), die in diesen Tagen noch weniger sicher waren als sonst. Heute kann man in der Telegram-Gruppe fast alles schreiben, was man möchte, und auch sonst leben, wie man will. Im Gegenzug gibt es die Erwartung, man möge doch bitte 24/7 die Würde und Unversehrtheit anderer Menschen respektieren. Ohne Ausnahmen und Überlaufventil.
Offenbar kollidiert Brauchtum immer öfter mit dieser Erwartung. Ist es zu viel verlangt? Traditionsvergessen? Langweilig? Im Dezember hatte ich mich gefragt, ob sich nicht alle, die sich gerne verkleiden und dabei jemanden verhauen oder verhauen werden wollen, im Kurhaus zur Klaasohm-Party treffen könnten. Für alle anderen wären dann die Straßen sicher. Aber gegen Katerstrich-Hater und Junggesellen, die die Bedeutung von „Konsens“ nicht verstehen, ist das auch keine Lösung. Ach, es hilft nichts, glaube ich. Wir werden das Thema weiter diskutieren müssen. Denn das nächste Fest kommt bestimmt.
Vorher haben wir noch die Themen von heute für Sie:
Kommen Sie sicher durch den Donnerstag!
Ihre Anne Beelte-Altwig