Mutlos, kraftlos, einfallslos: Die Wirtschaft braucht einen radikalen Neustart
Die Weltwirtschaft leidet immer noch ein bisschen unter einem Long-Covid-Syndrom, ist aber tendenziell wieder auf dem Wachstumskurs, den es vor der Pandemie gab. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Erde hat sich indes völlig vom Aufwärtstrend abgekoppelt. Innerhalb von fünf Jahren ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt gerade mal um 0,1 Prozent gewachsen. Im internationalen Vergleich wirkt der ehemalige Exportweltmeister wie ein Abstiegskandidat: mutlos, kraftlos, einfallslos und auf lange Sicht chancenlos.
„Die anhaltende Wachstumsschwäche legt nahe, dass die deutsche Wirtschaft von konjunkturellen wie auch von strukturellen Problemen ausgebremst wird“, stellte der Sachverständigenrat für Wirtschaft in seinem Jahresgutachten für 2024 fest. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos, sind sich die Wirtschaftsweisen einig. Für ihren Bericht haben sie deshalb den Titel „Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren“ gewählt – ein Motto, das sich die kommende Bundesregierung auf die Fahnen schreiben sollte. Praktischerweise ist das Gutachten eine gut verständliche Anleitung in fünf Kapiteln, wie die Bundesrepublik wieder zur alten wirtschaftlichen Stärke zurückfinden kann. Dummerweise wissen wir aber auch, dass Männer grundsätzlich keine Anleitungen lesen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Herausforderer Friedrich Merz (CDU) überbieten sich derzeit mit Steuerentlastungen für Unternehmen und Bürger. Das Institut für deutsche Wirtschaft (IW) hat ausgerechnet, dass sich die Steuerpläne der Sozialdemokraten auf ein Minus von 30 Milliarden Euro für die Staatskasse summieren, die der Union sogar auf minus 89 Milliarden Euro. Das soll für neuen Schwung sorgen, wirkt aber eher so als hätte man den US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA) bei der Shoppingplattform „Wish“ bestellt, die für ihre dreisten und minderwertigen Produktkopien bekannt ist. Neben dem IRA hat US-Präsident Joe Biden Investitionen im Gesamtvolumen von 2000 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre auf den Weg gebracht. Erste Einschätzungen zufolge werden die Vereinigten Staaten von dem Dekarbonisierungsprogramm erheblich profitieren und insbesondere bei der Batteriezellenproduktion der Alten Welt davonziehen.
Bislang bleiben Europa und Deutschland, die auch gegenüber China in Zukunftstechnologien ins Hintertreffen geraten, eine industriepolitische Antwort auf die US-Investitionen schuldig. 2025 muss mit dem Zögern endlich Schluss sein. Die nächste Bundesregierung steht vor einer Schicksalsentscheidung: Entweder Deutschland findet den Mut zu großen Reformen, oder es riskiert seinen Platz unter den wirtschaftlichen Spitzenreitern dauerhaft zu verlieren. Die Bundesrepublik muss sich als Wirtschaftsstandort neu erfinden, um wieder zu einer der ersten Adressen für Hochtechnologien zu werden. Der Weg dorthin ist kein Sprint, sondern ein Marathon: Die Politik muss Unternehmen und Bürger gleichermaßen überzeugen, diesen langen Weg mitzugehen – mit klaren Zielen, realistischer Planung und einer Zuversicht, die bis ins Ziel reicht.
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