Missbrauch im Bistum Hildesheim: Wegsehen mit System
Mehr als zwei Jahre lang ist die frühere niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz zusammen mit anderen Experten der Frage nachgegangen, wie es in der Bischofsperiode von Heinrich Maria Janssen im Bistum Hildesheim (1957 bis 1982) zu Fällen von sexualisierter Gewalt hat kommen können. Gab es ein System, ein Netzwerk? Stand Janssen selbst womöglich an der Spitze eines männerbündischen Missbrauchskartells?
Im ersten Moment klingt das Ergebnis, dass Niewisch-Lennartz am Dienstag im Generalvikariat in Hildesheim vorgestellt hat, erfreulich harmlos: Ein Netzwerk habe es keines gegeben. Doch dann kommt die Einschränkung: Eines solchen Netzwerks habe es im Bistum Hildesheim auch gar nicht bedurft.
Zwar gab es wohl keinen Zusammenschluss mehrerer Priester oder anderer Bistumsmitarbeiter, die sich ihre Missbrauchsopfer untereinander hin- und hergereicht hätten – denn ein solches Verfahren ist gemeinhin gemeint, wenn es um Missbrauchs-Netzwerke geht. Doch die Täter, von denen es viele gab, konnten ungestört agieren. Nein, nicht nur ungestört, sondern sogar geschützt. Auch im Bistum Hildesheim, das von Cuxhaven bis Göttingen reicht, hat es also ein schon längst bekanntes System aus Verschweigen, Vertuschen und Versetzen gegeben, das den Tätern ein sorgenfreies Leben beschert hat. Für die Opfer war es ein Martyrium, und ist es das bisweilen noch heute – denn die seelischen Verletzungen wirken nach.
Die möglichen Täter waren Kleriker, Ordensangehörige, Jugendliche
Im Laufe der Studie, die sich auf Gespräche mit Betroffenen, Archivrecherche und sozialwissenschaftliche Befragungen von Bistumsmitarbeitern stützte, sind die Experten auf zahlreiche neue Informationen gestoßen. Insgesamt 71 Tatverdächtigte haben die Sozialwissenschaftler vom Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) aufgrund von Befragung ausfindig machen können, 51 davon fallen in den expliziten Untersuchungszeitraum von 1957 bis 1982. 45 der Tatverdächtigen waren Kleriker, wovon 13 nach Angaben des IPP-Forschers Peter Caspari noch nicht in der MHG-Studie enthalten waren. Elf Tatverdächtigte wurden im Zuge der Befragung genannt, die nicht namentlich zugeordnet werden konnten.
Darüber hinaus gehören zum Kreis der Tatverdächtigen noch zwölf weitere Mitarbeiter des Bistums, mindestens sieben Jugendliche, die beispielsweise in Heimen andere Kinder missbraucht haben sollen, sowie fünf Ordensangehörige, wobei drei davon Nonnen waren, und dann schließlich noch zwei Kleriker, die sich zwar nicht an Kindern, wohl aber an Frauen vergangen haben sollen.
Zehn weitere Tatverdächtige in den Archiven entdeckt
Auf zehn weitere mögliche Täter, die über die 71 bereits genannten hinausgehen, stieß bei seiner Recherche in den Kirchenarchiven der frühere Staatsanwalt Kurt Schrimm. Anspruch auf Vollständigkeit möchte er dabei zwar nicht erheben, glaubt aber, dass ihm aufgrund seiner Erfahrung nichts Wesentliches verborgen geblieben ist. Dennoch merkte er gestern bei der Vorstellung der Studie an, die Personalakten und die sogenannten Personalnebenakten seien „schlampig geführt“ und „womöglich manipuliert“. Niewisch-Lennartz sagte: „Das zentrale Gedächtnis des Bistums hat sich als sehr lückenhaft erwiesen.“ Seiten seien in der Regel nicht nummeriert, es könne also einfach etwas herausgenommen worden sein. Außerdem finde man eines in den Akten auf gar keinen Fall: die Opfer.
Das Bild, das die Akten von den Tätern, Tatverdächtigen und Mitwissern darboten, ist aber ein verstörendes. Die Machtstellung des Priesters wurde vielfach ausgenutzt. Bei bekanntgewordenen Fällen habe auch der Bischof den Geistlichen alle Unterstützung zukommen lassen. Die Staatsanwaltschaft wurde seitens der Kirche nicht hinzugezogen, Ermittlungen wurden sogar behindert.
So hat man etwa Priester, gegen die Missbrauchsvorwürde erhoben wurden, einfach versetzt, um sie zu schützen – wenn es sein musste, sogar bis nach Lateinamerika, wenn es anders ging auch einfach in eine andere Diözese innerhalb Deutschlands. Im Gegenzug, so berichten die Experten, habe das Bistum dann auch mal andere auffällig gewordene Priester bei sich aufgenommen. Oft genug hätten aber auch die staatlichen Stellen bereits Nachsicht walten lassen.
Die Kirchen und der sexuelle Missbrauch
Seit 2010 beginnen die Kirchen allmählich, den jahrzehntelangen Missbrauch, der in ihren Kreisen stattgefunden hat, aufzuarbeiten. Heiner Wilmer, Bischof des Bistums Hildesheim, hat sich dazu 2019 Unterstützung unabhängiger Experten gesucht, die in dieser Woche ihre Ergebnisse vorgestellt haben. Erst im Mai 2021 hat dann auch das Bistum Osnabrück hat Wissenschaftler mit der Untersuchung von Missbrauchsfällen beauftragt. Kircheninterner Missbrauch ist derweil kein rein katholisches Phänomen, auch in der evangelischen Kirche gab es solche Fälle. Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat sich auf ihrer Synode im Juni erneut damit befasst. Landesbischof Ralf Meister bekannte damals: „Meine Kirche hat sexuellen Missbrauch geduldet.“ Die Protestanten verstärken derzeit ihre Präventionsarbeit.
Die Studie gibt aber auch eine Perspektive über die Zeit Janssens hinaus – nämlich auf das Wirken aller vier Bischöfe, die ab 1957 in Hildesheim tätig waren. Wie IPP-Forscher Florian Straus durch eine Befragung der (ehemaligen) Mitarbeiter des Bistums ermittelt hat, ergibt sich das klare Bild, dass es nicht nur während Janssens, sondern auch noch in Josef Homeyers Amtszeit ein Kartell des Schweigens und Nicht-wahrhaben-Wollens gegeben haben muss.
Die Wissenschaftler Caspari und Gerhard Hackenschmied erklären dies mit dem Trauma der Nachkriegszeit, dem pädagogischen Zeitgeist, der katholischen Sexualmoral sowie der priesterlichen Macht und dem Schutz der Institution Kirche. Die Ausläufer dieser Mentalität reichten demnach sogar noch in die Zeit von Bischof Norbert Trelle hinein, denn eine Wende im Bewusstsein habe es erst 2010 gegeben, als der erste Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt geworden waren.
Die richtige Trendwende im Umgang mit der Aufarbeitung der Fälle von sexualisierter Gewalt habe allerdings erst der jetzige Bischof Heiner Wilmer bewirkt, der schon am Tag seiner Amtseinführung gesagt hatte, alles in seiner Macht stehende zu tun, um diese Fälle angemessen aufzuarbeiten und neue künftig zu verhindern. Dass er das glaubhaft tut, sehen nicht nur die Bistumsmitarbeiter so, die sich mehrheitlich in der Befragung dahingehend geäußert hatten. Auch Jens Windel, Sprecher der Hildesheimer Betroffeneninitiative, glaubt dem Bischof und setzt auf ihn — etwas, das ihm nach eigenen Angaben wahrhaft schwer fällt nach all den schlechten Erfahrungen, die er mit der katholischen Kirche und ihren Versprechen hinsichtlich der Aufarbeitung und Entschädigung bereits gemacht habe.
Wilmer jedenfalls hat seit seinem Amtsantritt schon ein ganzes Bündel an Maßnahmen umgesetzt. Von Präventions- und Schutzkonzepten und neue Leitungsstandards für seine Kirche bis hin zu neu besetzen Gremien, die jene Form des Männerbündischen durch Laien und Frauen aufbrechen sollen.
Wie geht es nun weiter, nachdem die Studie präsentiert wurde? Die Experten haben dem Bistum eine Liste von Maßnahmen mit auf den Weg gegeben. Teile davon kann Bischof Wilmer nun selber umsetzen, Teile setzt er bereits um und wiederum andere Teile dieser Liste muss Wilmer mitnehmen nach Bonn zu seinen Kollegen in der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz— wenn nicht sogar mit nach Rom zum Papst persönlich. Zuerst zu den kleineren Schritten vor Ort: Niewisch-Lennartz hob aus ihrem Forderungskatalog hervor, dass eine gesonderte Untersuchung für Heimeinrichtungen vorgenommen werden sollte, da diese von der aktuellen Studie nicht angemessen berücksichtigt werden konnten. Darüber hinaus schlagen die Experten vor, die Betroffeneninitiative in Hildesheim kontinuierlich finanziell zu unterstützen, um den Opfern sexualisierter Gewalt eine stabile Anlaufstelle bieten zu können.
Zudem solle das Bistumsarchiv personell aufgestockt werden. Niewisch-Lennartz stellte klar, dass Lücken in den Archiven, die es gebe, sicherlich nicht vom aktuellen Personal verursacht wurden. Für eine weitergehende Aufarbeitung der Akten seien aber noch mehr Fachleute vonnöten. Der letzte Appell der früheren Justizministerin reicht über Hildesheim hinaus: Die Wissenschaftler empfehlen, dass in Zukunft alle Aufarbeitungsteams Zugang zu den Archiven aller Bistümer erhalten müssen – denn sonst führe das System der Versetzungen noch heute zu einer Verhinderung bei der Nachverfolgung von Missbrauchsfällen.
Wilmer wirbt für neue katholische Sexualmoral
Die dickeren Bretter betreffen jedoch Fundamente der katholischen Weltkirche. In Bonn wird Wilmer entschieden für eine neue katholische Sexuallehre werben, das kündigte er gestern bereits an. Die Sexualmoral der Kirche dürfe nicht sämtliche Erotik und Sexualität jenseits des Geschlechtsakts zum Zeugen von Kindern verbieten und schlechtmachen.
Die andere Empfehlung, die Wilmer offenbar eher nicht so offensiv vertreten wird, betrifft das Zölibat. Eine Mehrheit der Bistumsmitarbeiter hält dies für überarbeitungsbedürftig. Wilmer wendet auf Nachfrage aber ein, es gehe um zwei unterschiedliche Dinge, wenn von sexualisierter Gewalt und der Ehelosigkeit der Priester gesprochen wird. Denn bei sexualisierter Gewalt gehe es, so seine Erklärung, ja nicht um Sexualität, sondern um Gewalt – um ein Über und Unter, um die Botschaft: Du bist nichts und ich kann mit Dir machen, was ich will. Dieses hätten die Priester dereinst ihren Schutzbefohlenen angetan — Wilmer nennt es „teuflisch“.
Und Janssen – zählt er nun selber auch zu den Tatverdächtigen? „Wir haben keine Beweise gefunden, die ihn weiter belasten“, sagte Niewisch-Lennartz. „Aber auch keine, die ihn entlasten können.“
Von Niklas Kleinwächter