
Sie ist der kleine Nachfolger der CeBit: Beim IT-Kongress „Techtide“ diskutieren führende Köpfe aus Niedersachsen über die Digitalisierung und ihre Auswirkungen. In diesem Jahr wurde die Fachmesse des niedersächsischen Wirtschaftsministeriums, die ohnehin schon eher unter dem Radar der Öffentlichkeit fliegt, allerdings zum Geisterspiel: Außer den Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die unter verschärften Corona-Regeln in den Livestreams vor den Kameras standen, war kaum jemand auf dem Messegelände in Hannover vor Ort. Schade eigentlich, denn die Techtide hat nur ein großes Manko: Sie bietet viele gute Diskussionen und Vorträge an, die in gleichzeitig stattfinden. Wir sind bei unserem Techtide-Besuch auf folgende Themen gestoßen:

„Wir tun in unserem Bildungswesen wirklich alles, damit wir gegen die künstliche Intelligenz verlieren“, sagt Florian Bernscheider. Der frühere FDP-Bundestagsabgeordnete und Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Braunschweig kritisiert die Standardisierung der Lernwelt, in der sich vor allem einer wohl fühlt: Die künstliche Intelligenz. „Wenn unsere Abschlussprüfungen vom Computer besser gelöst werden, als von den Schülern, ist doch klar, wer künftig die Hosen anhaben wird“, sagt Bernschneider und ruft dazu auf, das interdisziplinäre und generalistische Denken zu fördern. „Auch in deutschen Schulen gilt nach wie vor ‚survial of the fittest‘ und das heißt, nicht der stärksten, sondern der anpassungsfähigsten“, sagt der Vater einer fünfjährigen Tochter. Für Bernschneider bedeutet das: „Unser Bildungssystem muss mehr Rebellen hervorbringen, die sich mal trauen das zu hinterfragen, was KI eigentlich hervorbringt.“
„Sind wir zu blöd für die Zukunft?“, fragt auch Prof. Martin Korte von der TU Braunschweig. „Wir müssen nicht immer nur fragen, wie wir die Technik klüger machen. Wir müssen auch die nächste Generation klüger machen, damit sie mit den Techniken gut umgehen kann. Nicht als Mensch über Maschine oder Maschine über Mensch, sondern Mensch mit Maschine“, sagt der Professor für zelluläre Neurobiologie. Gegenüber der künstlichen Intelligenz sei der Mensch beispielsweise immer dann im Vorteil, wenn es um Zukunftsprognosen, Intuition oder gar Objekterkennung geht. Korte erinnert an einen Unfall eines selbstfahrenden Autos vor drei Jahren, das einen Lkw mit weißer Plane für eine Wolke hielt. „Auch wir benutzen in unseren Köpfen Algorithmen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir uns nicht auf Algorithmen reduzieren“, sagt der Neurologe und warnt auch vor übertriebenen Erwartungen an künstliche Intelligenz. „Man verlässt sich da zu sehr auf die Rechenleistung und schaut zu wenig darauf, wie unsere Gehirne Probleme lösen“, meint Korte. Zur Zukunft der KI sagt er: „Wir müssen sehen, dass wir Dinge nicht überregulieren. Wir müssen aber auch aufpassen, dass wir unsere Privatsphäre wahren können und ethische Standards weiter erhalten bleiben.“


Bastian Brunotte
sprechen über die
Mobilität der Zukunft. | Foto: Link
„50 Millionen Menschen in Deutschland leben im ländlichen Raum, wo man (fast) auf den Pkw angewiesen ist. Öffentliche Verkehrsmittel haben dort deutlich Nachholbedarf“, sagt Mobilitätsforscherin Kathrin Viergutz. Die Verkehrsexpertin sieht insbesondere an der Schnittstelle von Stadt und Umland großes Potenzial für digitale und automatisierte Lösungen. Sie träumt von einer intermodalen Online-Plattform für Pendler, über die man unterschiedliche Verkehrsmittel buchen und irgendwann sogar ein selbstfahrendes Shuttle bestellen kann. ÖPNV, Fahrrad und Auto stehen für sie nicht in Konkurrenz. „Es gibt unterschiedliche Verkehrsmittel für unterschiedliche Zwecke. Das müssen wir noch stärker einbeziehen.“
„Wir werden zukünftig eine deutlich flexiblere Mobilität haben, als wir sie jetzt kennen. Insbesondere wenn wir Echtzeitinformationen miteinbeziehen“, ist sich Viergutz sicher, die am Institut für Verkehrssystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig arbeitet. Als einen ersten Schritt in diese Richtung nannte sie die Fahrkreis-App „Nemo“, die derzeit unter wissenschaftlicher Begleitung der Uni Oldenburg entwickelt wird. „Da können Privatleute über diese Fahrkreis-App ihre Privatfahrzeuge zur Verfügung stellen. Das ist so ‘ne Art private Carsharing-Vermittlung“, erläutert Viergutz das Prinzip. In den Modellregionen Wesermarsch und Oldenburg wird die App bereits getestet. 2022 geht das Projekt in die zweite Runde. Viergutz: „Ich glaube, da kommt noch was sehr Interessantes auf uns zu.“
„Die Dystopie in der Datensouveränität ist längst hier“, sagt Peter Leppelt, Dozent für Cybersecurity an der Hochschule Weserbergland. Die aktuelle Lage beim Thema Datenschutz und IT-Sicherheit spitzt er wie folgt zu: „Die juristische Zunft produziert einen riesengroßen Haufen Papier und kümmert sich um so wesentliche Sachen wie Cookie-Banner. Die Tech-Industrie baut kleine magische Maschinchen, die auf Knopfdruck alles okay machen. Und die Politik kauft den Quatsch dann ab. Im Anschluss klopfen sich alle auf die Schulter und sagen: Jetzt haben wir richtig was bewegt.“ Leppelt kritisiert, dass die IT-Security-Industrie mit fadenscheinigen Produkten ein falsches Gefühl von Sicherheit verkauft. „Was eigentlich notwendig wäre, wäre eine objektive Beratung – aber die kann man eben nur einmal verkaufen“, sagt der 45-Jährige, der auch dem Digitalrat Niedersachsen angehört.

In der Politik beobachtet Leppelt eine „Umba-Wumba-Digitalisierung“, die nur an schnellen, aber nicht an ernsthaften Lösungen interessiert ist. „Das führt dann dazu, dass man Dinge kauft, von denen man nicht weiß, wie sie funktionieren, ob sie funktionieren und ob das überhaupt Sinn ergibt. Ein Paradebeispiel dafür ist Luca.“ Noch kritischer sieht er den Kauf der Spionagesoftware „Pegasus“ durch das BKA, die bislang unerkannte Schwachstellen auf Endgeräten ausnutzt – sogenannte „Zero-Day-Exploits“. „Der Staat fördert, dass Sicherheitslücken nicht gemeldet werden“, ärgert sich Leppelt. Zudem begeben sich die Benutzer durch Cloud-Dienste in vollständige Abhängigkeit und sind auch bei der Preisgestaltung den Herstellern vollständig ausgeliefert. Das von der DSVGO vorgeschriebene Löschen von personengebundenen Daten in der Cloud finde quasi gar nicht statt. Datensätze würden nicht physikalisch gelöscht, sondern von den Anbietern einfach nur verborgen. Leppelt mahnt: „Wir bauen aktuell die perfekte Überwachungsstruktur für ein kommendes totalitäres Regime. Das erzähle ich seit zehn Jahren in Vorträgen. Anfangs hat das keiner ernst genommen, in den letzten vier, fünf Jahren wird das deutlich plastischer. Mir wird mulmig.“
„Einzelhändler in der Innenstadtlage haben es zunehmend schwer, geben ihre Geschäfte, kommen mit der Digitalisierung nicht mit“, berichtet Marian Köller. Doch der Chef der Digitalagentur Niedersachsen hat in der Corona-Krise auch noch einen zweiten Effekt beobachtet: „Durch die Digitalisierung ergeben sich durchaus auch Chancen, das Innenstadtleben wieder voranzubringen und in andere Kontaktformen zu kommen.“ Wie das konkret aussehen kann, schildert Mario Handke vom Projekt „Ankerplatz“ in Stade. Handke & Co. haben sich zum Ziel gesetzt, den vereinsamten Platz „Am Sande“ in der City der Hansestadt mit Leben zu füllen. „Die Innenstadt der Zukunft muss Gemeinschaftsprozesse generieren“, sagt Handke und will das „Dorf 4.0“ in die City bringen. „Jeder, der interessiert ist, kann sich demnächst als Dorfbewohner registrieren und erhält eine digitale ID auf sein Smartphone“, erläutert der Kopf der Bürgerinitiative. Die Dorfbewohner können dann beispielsweise einen Multifunktionscontainer für Workshops oder private Treffen mieten, einen Fußball aus einem Materialschrank ausleihen oder eine Musikanlage mieten. Handke: „Wir erhoffen uns, dass durch die Digitalisierung wieder echte Gemeinschaft entsteht.“

Einen anderen Ansatz gibt es in Hildesheim, wo in diesem Jahr der „Hi-X-DigiHub“ an den Start gegangen ist. Das Gemeinschaftsprojekt von IT-Firma Compra, Universität und Wirtschaft soll zur digitalen Anlaufstelle für die ganze Region und zu einer Art Schaufenster werden. „Es ist auch eine Ausstellungs-Location, wo man sich anschauen kann, wie ein mustergültiges, modernes Unternehmen aussehen könnte“, sagt Compra-Marketingchef Jan Ovelgönne. Gezeigt werden etwa der 3D-Druck oder moderne Kassensysteme. „Viele Innenstädte haben den Anschluss an E-Commerce verloren“, weiß Ovelgönne. In Hildesheim gibt es deswegen seit der Corona-Pandemie den „Hildeshop“, einen Online-Marktplatz für lokale Händler. Dafür dass die Plattform „während des Lockdowns mit heißer Nadel gestrickt wurde“, kann sie sich durchaus sehen lassen. In Niedersachsen dürfte der „Hildeshop“ zu den erfolgreichsten Projekten dieser Art zählen und er soll auch nach der Pandemie weiterlaufen. Das Ziel ist es, dass die Hildesheimer hier so bequem einkaufen können, wie bei Amazon oder Ebay. Doch da gibt es ein ganz praktisches Problem: „Bei wem zahle ich, wenn ich mehrere Waren ausgewählt habe?“, berichtet Compra-Geschäftsführer Tobias Kunitz und sagt: „Das Thema Zahlung ist bei Online-Shops ein ganz entscheidendes Thema und die Stelle, die das ganz schnelle Wachstum einer solchen Idee hemmt.“











