Marburger Bund: Überstunden und wachsende Gewalt belasten die Klinik-Ärzte

Die Ärztegewerkschaft „Marburger Bund“ schlägt Alarm: Jeder vierte Klinik-Arzt denke laut einer aktuellen Mitgliederbefragung über einen Berufswechsel nach. Weitere 16 Prozent gaben an, unentschlossen zu sein. „Damit schließen insgesamt über 40 Prozent einen Ausstieg aus dem ärztlichen Beruf nicht aus“, erklärten die beiden niedersächsischen Landesvorsitzenden Hans Martin Wollenberg und Andreas Hammerschmidt am Mittwoch in der Landespressekonferenz. Ein Grund für das Hadern mit der eigenen Berufswahl sei für viele Beschäftigte die hohe Arbeitsbelastung. Zwar habe sich die Zahl der Überstunden im Vergleich zur vorherigen Erhebung vor zwei Jahren verbessert, allerdings nur wenig. Knapp die Hälfte der 1300 Befragten gab an, pro Woche im Schnitt eine bis vier Überstunden zu leisten, 34 Prozent arbeiten demnach wöchentlich vier bis neun Stunden über ihrem Soll und immerhin noch 16 Prozent gaben an, bis zu 19 Überstunden leisten zum müssen. Ein geringer Anteil von zwei beziehungsweise einem Prozent erklärte, zwischen 19 und 29 oder sogar mehr Stunden über der regulären Arbeitszeit im Dienst zu sein. Den Rekord halte ein Oberarzt mit mehr als 700 Überstunden über ein halbes Jahr gerechnet, sowie eine Ärztin in Ausbildung, die im selben Zeitraum rund 370 Stunden zu viel gearbeitet hätte. Diese enorme Mehrbelastung sorge dafür, dass immer mehr Ärzte eine „eigene Arbeitszeitreform“ anstreben, erklärte Hammerschmidt. Gemeint ist damit ein Wechsel von einer Voll- in eine Teilzeitbeschäftigung. Fast 40 Prozent der befragten Ärzte arbeiten mittlerweile in Teilzeit. Als der „Marburger Bund“ 2019 erstmals die bundesweiten Ergebnisse der Mitgliederbefragung für Niedersachsen gesondert ausgewertet hatte, lag dieser Wert noch bei 29 Prozent.
Jeder zehnte befragte Arzt gab an, beruflich ständig über die eigenen Grenzen zu gehen. Fast die Hälfte fühlt sich häufig überlastet. Nur zwei Prozent der Befragten konnte erklären, bei der Arbeit keinerlei Stress zu verspüren. Was viele der Befragten offenbar doch bei der Stange hält, ist die Teamarbeit. Diese wird von einer übergroßen Mehrheit als eher oder sehr gut bewertet. Doch gleichzeitig belastet die Beschäftigten der zunehmende Stellenabbau. „In einem kaputten Gesundheitssystem als Marionette der Krankenhausgewinnmaximierung zu fungieren, macht einen selbst kaputt, wenn man nicht rechtzeitig geht“, erklärte eine befragte Person auf die Frage, weshalb sie nicht länger in der kurativen Versorgung tätig sein möchte. Insgesamt drei Viertel der Befragten gaben konkret die hohe Arbeitsbelastung als Grund für einen möglichen Berufswechsel an. Mehr als zwei Drittel erklärten, die Arbeitsbedingungen widersprächen dem eigenen Anspruch. Fast die Hälfte beklagt, zu wenig Zeit für die Patienten zu haben. Eine befragte Person schrieb: „Der Umgang miteinander wird immer schlechter. Das ärztliche Ideal hat in dem Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus keinen Platz. Fort- und Weiterbildung sind kosten- und personalbedingt kaum noch möglich.“ Jemand anderes warnt davor, dass es aufgrund der hohen Arbeitsdichte eine Gefährdung der eigenen und der Patientengesundheit gebe. Der „Marburger Bund“ fordert daher einen Personalaufbau, statt eines Abbaus. Zudem müssten die Arbeitsbedingungen an den Kliniken verbessert werden. Für den ländlichen Raum spricht sich Verbandschef Wollenberg für eine bessere Bezahlung der Ärzte aus sowie für eine Investition auch in die Rahmenbedingungen vor Ort, die das Leben jenseits der Großstädte attraktiver machen könnten.
Zu wenig Zeit für die Patienten zu haben, werde durch die schlechte IT-Ausstattung in den Kliniken noch verstärkt, erklärte Wollenberg vom „Marburger Bund“ und sein Vorstandskollege Hammerschmidt meinte, durch die angespannte Situation verschärfe sich ein anderes Problem zunehmend. So berichten fast 90 Prozent der befragten Ärzte, schon einmal verbale Gewalt am Arbeitsplatz erlebt zu haben, mehr als die Hälfte der Befragten berichtet sogar von körperlicher Gewalt. Ein Betroffener berichtet in der Befragung von zunehmendem Egoismus in der Gesellschaft und schwindendem Verständnis für das Solidarsystem. Der Krankenkassenbeitrag werde wie ein Netflix-Abo betrachtet, bei dem auf Knopfdruck eine Leistung beansprucht werden könne. Hammerschmidt berichtet aus seiner Erfahrung als Oberarzt in der Notaufnahme heraus, dass die Gewalt von allen Teilen der Gesellschaft ausgehe. Von vorhandenen Schutzmaßnahmen wie beispielsweise einem Sicherheitsdienst, spezifischen Schulungen oder Deeskalations-Trainings in ihrer Klinik wusste allerdings nicht einmal die Hälfte der Befragten zu berichten. Hier fordert der „Marburger Bund“ Nachbesserung durch eine individuelle Gefährdungsanalyse, Aufklärung, Schulung und konsequente Ahndung.
Dieser Artikel erschien am 13.02.2025 in der Ausgabe #029.
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