Irgendwann werden sich Anthropologen vielleicht fragen, warum die Menschen in Hannover alle zwei Wochen Girlanden aus Altpapier in ihre Fenster hängen. Warum sie sich die Gesichter blau anmalen und in den frühen Morgenstunden auf der Straße tanzen. Die ganz Alten werden sich erinnern: Blau, das war die Farbe der Altpapiertonne. Und getanzt haben sie, um die Ankunft des Müllwagens zu feiern, der sie von den Altpapierbergen in ihren Wohnungen befreite.

Denn der hannoversche Abfallwirtschaftsbetrieb aha hatte im Jahr 2025 beschlossen, das Altpapier nur noch alle zwei Wochen abzuholen. Ich werde den Verdacht nicht los, dass sich das Menschen ausgedacht haben, die in Einfamilienhäusern wohnen. Dort gibt es meistens Hauswirtschaftsräume, Bastelkeller oder Schuppen, wo man Dinge praktisch und außer Sichtweite lagern kann. Bei uns gibt es das alles nicht. Deswegen stehen jetzt im Schnitt zwei vollgestopfte Kisten mit Papier in unserem Wohnzimmer herum. Kommt der Müllwagen, dann heißt es schnell sein: Denn natürlich haben alle Nachbarn solche Kisten zu Hause und die blaue Tonne ist ratz, fatz wieder voll.
Aber kein Nachbar würde je mit seiner Altpapierkiste wieder umkehren – genauso, wie man noch nie einen urbanen Radfahrer hat absteigen sehen, nur weil ihm ein Schild das befiehlt. Jede Pizzaschachtel und jeder Versandkarton muss sorgfältig neben, unter oder auf der vollen Tonne verstaut werden, damit man zufrieden wieder die Treppe hochstapfen kann. Die Mitarbeiter von aha nehmen das, was außerhalb der Tonne lagert, nicht mit. Verstehe ich, würde ich vielleicht auch nicht machen.
Aber jede durchnässte, herrenlose Pappe trägt zu diesem weit verbreiteten Gefühl bei, das nichts funktioniert: Die S-Bahn kommt nicht, das Schwimmbad ist für Jahre geschlossen, ein Brief braucht eine halbe Woche bis nach Braunschweig (wenn er überhaupt wieder auftaucht) und beim Hausarzt gibt es erst in einem Monat einen Termin. Man könnte jetzt sagen, dass uns unser Lebensstil auf die Füße fällt: Wenn wir einmal weniger beim Lieferdienst bestellt hätten, dann hätten wir jetzt auch eine Tüte voller kleiner Pappschachteln weniger im Wohnzimmer herumstehen. Wenn wir unsere Großeltern gefragt hätten, wie sie eine Erkältung oder Durchfall früher kuriert haben, dann wären die Wartezimmer nicht so voll. Aber niemand möchte auf die harte Tour zu einem anderen Lebensstil erzogen werden. Schon gar nicht von einem Haufen nasser Pappe.
Ein Glück, dass Sie diese Kolumne digital lesen. Das spart schon mal eine Menge Papier. Für das lange Wochenende haben wir diese Themen für Sie:
- Lichte Kronen, mehr Schäden – aber weniger Totalausfälle. Forst-Experten sehen kaum Verbesserungen, aber auch wenig Verschlechterung in den Wäldern Niedersachsens.
 
- Niedersachsen wird am 1. November 79 Jahre alt. Ein Buch zur Landesgeschichte gewährt Einblicke.
 
- Außerdem: Arbeitgeber gegen Kriminalität, Lehrer gegen Zwangspensionierung, Miriam Staudte gegen Panikmache und Thomas Spieker gegen Anna Kebschull
 
Am Reformationstag erscheint der Rundblick nicht. Wenn Sie möchten, lesen Sie am Montag, 3. November wieder von uns.
Ein schönes langes Wochenende mit wahlweise reformatorischem Geist oder ruhelosen Geistern wünscht Ihnen
Ihre Anne Beelte-Altwig


