Der Umstieg vom Verbrennungsmotor auf den Elektroantrieb wird den Wirtschaftsstandort Niedersachsen drastisch verändern. „Die Anzahl der Teile in Elektromotoren ist sehr viel kleiner. Da werden ganze Wertschöpfungsketten infrage gestellt“, erklärte gestern Prof. Thomas Vietor von der TU Braunschweig bei einem Netzwerktreffen der Transformationsagentur Niedersachsen. Der Elektroantrieb auf der Hinterachse des Porsche Taycan bestehe zum Beispiel nur noch aus bis zu 200 anstatt wie bei einem Verbrenner üblich aus 1400 Einzelteilen.

Für die Automobilzulieferer, die bisher genau diese bald überflüssigen Komponenten gefertigt haben, brechen also harte Zeiten an. Doch der Leiter des Instituts für Konstruktionsforschung machte den Zulieferern auch Hoffnung: Obwohl es künftig weniger Einzelteile geben wird, wird der Markt größer, sagte Vietor. Der weltweite Branchenumsatz werde von 950 Milliarden Euro pro Jahr (Stand: 2019) bis 2030 voraussichtlich auf 1260 Milliarden Euro anwachsen. „Die Wertschöpfungen in der Komponentenfertigung steigt. Um davon zu profitieren, erfordert es in allen Bereichen aber einen enormen Wandel“, so der Experte für Systemtechnik.
„Wir stehen vor der Dekade der größten Veränderungen, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Für die Automobilindustrie ist aber die größte Herausforderung die Transformation“, sagte Wirtschaftsminister Olaf Lies. Aus Sicht des SPD-Politikers gibt es allerdings nicht nur die eine Automobilindustrie. „Es gibt die Fahrzeughersteller und den viel größeren Teil der Zuliefererbetriebe. Die Zulieferer müssen das liefern, was heute gefragt ist, und stehen dabei unter einem hohen Kostendruck“, stellte Lies klar und äußerte seine Sorge über die Zukunftsfähigkeit der Komponentenhersteller.

Für den Wirtschaftsminister ergibt sich daher ein klarer Handlungsauftrag an die Politik: „Wir müssen die Innovationsfähigkeit der Zulieferer sichern“, sagte Lies und brachte dabei das Instrument der „Innovationspartnerschaft“ ins Spiel. Dabei handelt es sich um ein spezielles Vergabeverfahren für einen öffentlichen Auftraggeber zur Entwicklung von innovativen Dienstleistungen oder Produkten, die noch nicht auf dem Markt verfügbar sind.
"Wenn wir nicht rausgehen mit der Einstellung: ‚Wir kriegen das hin‘, dann wird es schwierig werden."
Olaf Lies, Wirtschaftsminister
Lies zeigte sich zuversichtlich, dass die Transformation der für Niedersachsen so wichtigen Automobilindustrie gelingen wird, wenn Wirtschaft, Politik und Gesellschaft an einem Strang ziehen. „Die Angst vor Veränderung würde bedeuten, dass man diesen Weg nicht geht. Das würde einen Schaden für uns alle bedeuten. Wenn wir nicht rausgehen mit der Einstellung: ‚Wir kriegen das hin‘, dann wird es schwierig werden“, warnte Lies und betonte dabei die Rolle der Transformationsagentur: „Ihre Aufgabe ist es, in die Unternehmen hineinzugehen, um Unterstützung und Beratung zu geben. Wir als Landesregierung haben ein großes Interesse, dass diese Arbeit fortgesetzt wird.“

Die Transformationsagentur wurde 2021 vom Arbeitgeberverband Niedersachsen-Metall und der IG Metall sowie der Demografieagentur gegründet, um den Wandel in der Metall- und Elektroindustrie – vor allem aber auf dem Automobilsektor – zu beschleunigen und zu unterstützen. „Wir wollen Transformation konkret machen. Noch niemals war die Arbeit der Transformationsagentur so wichtig wie heute. Denn so einen kumulativen Veränderungsdruck hat es noch nie gegeben und Defätismus kann keine Antwort sein“, sagte Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer von Niedersachsen-Metall.
Trotz wegbrechender Umsätze durch Lieferengpässe und stark gestiegener Energiekosten bei gleichzeitig massiven Investitionen in Dekarbonisierung und Digitalisierung laute das Ziel, so viel industrielle Wertschöpfung wie möglich in Niedersachsen zu halten und neue Produktionsmöglichkeiten für die Unternehmen zu finden – so gebe es schon jetzt Autozulieferer, die auch die Herstellung von Medizintechnik für sich entdeckt haben.

Auch Schmidt zeichnete ein gespaltenes Bild der Automotive-Branche: Während die Fahrzeughersteller in Krisenzeiten ihr Portfolio einfach ausdünnen und sich auf Produkte mit hohen Margen beschränken können, hätten die Zulieferer diese Möglichkeit nicht. „Die Mittelständler leben vom Marktvolumen“, sagte Schmidt. In diesem Punkt machte Prof. Vietor den Automotive-Unternehmen, die beim Netzwerktreffen in Hannover zahlreich vertreten waren, etwas Hoffnung. Durch den Wandel der Mobilität werde sich zwar der Bedarf an Fahrzeugen insgesamt verringern. „Wir werden aber weiterhin einen ganz großen Anteil an motorisiertem Individualverkehr haben. Der Illusion, dass man einen großen Teil davon auf die Schiene bringt, gebe ich mir nicht her“, sagte der Mobilitätsforscher. Gleichwohl werden die meisten Fahrzeuge künftig autonom unterwegs sein, was zu einer deutlich höheren Auslastung und auch zu einem viel höheren Verschleiß von Fahrzeugteilen führen werde.

IG-Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger bezeichnete die Transformationsagentur als „zentrales Scharnier“ für die Umstellung der Automotive-Branche. „Die Bewältigung der Transformation gelingt aber nur, wenn Geschäftsführung und Beschäftigte an einem Strang ziehen“, sagte Gröger. Viele Unternehmen hätten allerdings noch keine Gesamtstrategie für die Transformation, was es den Mitarbeitern schwierig mache, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.
"Wir können auch anders als IG Metall. Wenn keine Perspektive da ist, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Aber lasst uns diese Energie lieber in Zukunftsprozesse stecken."
Thorsten Gröger, Bezirksleiter IG Metall Niedersachsen
„Wir können auch anders als IG Metall. Wenn keine Perspektive da ist, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Aber lasst uns diese Energie lieber in Zukunftsprozesse stecken“, sagte der Gewerkschaftsführer in Richtung der Unternehmer. Er sprach sich dabei insbesondere für Zukunftstarifverträge und andere „belastbare Zukunftskonzepte“ aus. Gröger warnte die Unternehmen sehr deutlich davor, untätig zu bleiben: „Die Transformation der Automobil- und Zulieferindustrie ist kein Selbstläufer. Produkte und Prozesse, die nicht in absehbarer Zeit klimaneutral aufgestellt sind und die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht berücksichtigen, sind nicht zukunftsfähig.“