31. Okt. 2018 · 
Kommentar

Lehrer-Arbeitszeit: Auf den Kultusminister wartet ein heikler Balanceakt

Darum geht es: Die Mehrheit der Lehrer arbeitet länger als vertraglich vereinbart, viele liegen sogar über der Höchstarbeitszeitgrenze. Eine Expertenkommission hat die Daten der GEW-Studie zur Grundlage genommen, um Vorschläge zu erarbeiten. Ein Kommentar von Martin Brüning. Ein entscheidendes Problem im Lehreralltag versteckt sich hinter dem Begriff „Sonstiges“. Im Jahr 1960 machte der Unterricht etwa 50 Prozent der Arbeitszeit eines Grundschullehrers aus, inzwischen sind es nur noch 40 Prozent. Dafür stiegt der Anteil „sonstiger Tätigkeiten“ von 17 auf 35 Prozent. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Gymnasiallehrern. 40 Prozent ihrer Arbeitszeit verwendeten sie 1960 für den Unterricht, inzwischen sind es nur noch etwa 30 Prozent. Der Punkt „Sonstiges“ ist mit 31 Prozent inzwischen genauso zeitintensiv. 1960 lag er nur bei 14 Prozent. Die Zahlen dokumentieren eindrucksvoll die Verschiebung der Tätigkeitsstruktur bei Lehrern. Es sind nicht allein Klassenfahrten, Ausflüge, Veranstaltungen und ein Mehr an Konferenzen, die den Schulalltag bestimmen. Auch die Inklusion fordert abseits des Klassenzimmers ihren zeitlichen Tribut. Gutachten müssen geschrieben, Förderschwerpunkte festgelegt, Formalien beachtet werden. Die Politik hatte in den vergangenen Jahren einen maßgeblichen Anteil an den Veränderungen in den Schulen. Den Rahmen hat sie allerdings nicht angepasst – ein schwerwiegendes Versäumnis, der ihr jetzt auf die Füße fällt. Viele Lehrer kommen höchstens noch gerade so durch ihren Alltag. Attraktiver ist der Beruf nicht geworden. https://soundcloud.com/user-385595761/tonne-lehrer-sollen-bei-sonstiges-entlastet-werden Die hohe Belastung zahlreicher Lehrer ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gibt es eine enorme Streuung in der Statistik. Es gibt sehr viele Lehrer mit einer überdurchschnittlichen hohen Belastung, zugleich machen sich aber auch nicht wenige einen schlanken Fuß und liegen zum Teil deutlich unter dem Arbeitszeitdurchschnitt. Das kann unterschiedliche Gründe haben: eine geringere Leistungsfähigkeit aufgrund fortgeschrittenen Alters, eine Überforderung im überbordenden Schulalltag, private oder gesundheitliche Gründe. Aber es wird auch einen Prozentsatz geben, und da unterscheiden sich Lehrer nicht von allen anderen Arbeitnehmern in anderen Berufen, der schlichtweg faul ist und andere für sich die schwierige Arbeit erledigen lässt. Die Streuung in der Statistik macht deutlich, dass es in der Debatte auch, aber nicht allein um eine Arbeitsentlastung geht, auch wenn die Gewerkschaften natürlich den Schwerpunkt genau darauf legen dürften. Es geht ebenso um einen gerechteren Ausgleich im Kollegium. Die Leistungsträger in der Lehrerschaft dürfen am Ende nicht die Dummen sein. Im Moment werden die intrinsisch motivierten Lehrer im System bis an und über die Grenze der Leistungsfähigkeit ausgenutzt. Was ist zu tun? Die Arbeitsbelastung muss gesenkt und wieder in geordnete Bahnen gebracht werden, keine Frage. Das dürfte eine knifflige Aufgabe werden, zumal sich Landesregierungen jeglicher Couleur schwertun, sich von einmal eingeführten und liebgewonnenen Änderungen jeder Art im Schulwesen zu verabschieden. Bürokratieabbau ist ein großes Wort und an jeder Stelle immer nur schwer umzusetzen. An den Schulen wird er dennoch nötig sein. Gleichzeitig ist das System der eigenverantwortlichen Schule in Ansätzen in Frage zu stellen. Wie eigenverantwortlich können Schuldirektoren handeln,  die die Ungleichheiten im System ja bereits in den vergangenen Jahren zur Kenntnis genommen haben müssen? Der Lehrerberuf krankt an denselben Stellen wie alle andere Jobs in der Verwaltung: wenig Aufstiegsmöglichkeiten, problematische Leistungsgerechtigkeit. Die in die Debatte gebrachten Entlastungsstunden sind eigentlich ein Treppenwitz. Denn sie würden dazu führen, dass ausgerechnet die leistungsbereiten und fleißigsten Lehrer am Ende weniger Unterricht geben würde. Das wäre weder gut für das System noch für die Schüler. Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne versucht derweil, seinen vorsichtigen Kurs fortzusetzen. Ihm sind die Herausforderungen und Klippen, die es zu umrunden gilt, vollkommen klar, und er versucht, in einer schwierigen Gemengelage mit harten Interessenvertretern einen Kompromiss zu finden. Dieser Weg ist nicht ungefährlich, droht man doch gerade in der Schulpolitik zum Spielball der Lobbyisten zu werden. Auf der anderen Seite wurde in der Zeit der Ministerinnen Elisabeth Heister-Neumann und Frauke Heiligenstadt deutlich, wie viel Spielraum bleibt, wenn man den Draht zu den Lehrerverbänden und Gewerkschaften verliert: gar keiner. Auf Tonne, der die Interessen von Schülern, Eltern, Lehrern und Politik berücksichtigen muss, wartet deshalb ein heikler Balanceakt. Zu beneiden ist er darum nicht.   Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #193.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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