16. Nov. 2016 · 
Inneres

Kritik an zurückhaltenden Regeln für Volksentscheide in Niedersachsen

Der Verein „Mehr Demokratie“, der seit bald 30 Jahren bundesweit für Volksabstimmungen streitet, hat Niedersachsen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Gestern wurde ein „Volksentscheid-Ranking“ vorgestellt, und im Vergleich der 16 Länder landet Niedersachsen auf Position 13, nur Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland seien schlechter aufgestellt. Gewertet wurden bei dieser Darstellung die Rechte auf Landesebene und in den Kommunen. Viele andere Länder seien hier viel fortschrittlicher, sagt Tim Weber, Geschäftsführer von „Mehr Demokratie“. Auf den ersten Plätzen liegen Bayern, Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg. „Niedersachsen steht direktdemokratisch eigentümlich still, der Reformwille ist zu zaghaft“, erklärte Weber. Zwar wird durchaus gewürdigt, dass mit der neuen Kommunalverfassung, die Anfang November in Kraft getreten ist, die Rechte verbessert wurden. So wurde die alte Vorschrift gestrichen, dass ein Rat trotz Start eines Bürgerbegehrens Fakten schaffen kann. Auch der verpflichtende Kostendeckungsvorschlag, der oft Initiativen gebremst hat, ist weggefallen. Das Quorum der nötigen Ja-Stimmen bei einem Bürgerentscheid, bisher 25 Prozent der Wahlberechtigten, wurde auf 20 Prozent gesenkt. „Das sind zwar Fortschritte, aber Niedersachsen ist trotzdem im Bundesvergleich nicht mutig genug bei der direkten Demokratie“, betonte Weber. „Es bewegt sich hier nichts.“ Nach Darstellung von „Mehr Demokratie“ sind auf kommunaler Ebene in den vergangenen 20 Jahren hierzulande 300 Bürgerbegehren gestartet worden, knapp 100 Bürgerentscheide habe es gegeben. Das sei nicht übermäßig viel. Auf Landesebene seien gar nur drei Volksbegehren bis zur nötigen Reife vorangetrieben worden, zu einem Entscheid kam es nicht. Spektakulär war eine solche Aktion zur Wiedereinführung des 2005 abgeschafften Blindengeldes – der Protest führte dazu, dass die Politik vor einem Volksentscheid umschwenkte und das Anliegen der Bürgerinitiative weitgehend erfüllte. Nach Darstellung der Landesregierung gab es seit Einführung einer entsprechenden Bestimmung in der Landesverfassung 1994 insgesamt zehn Versuche, einen Volksentscheid zu erzwingen. Vier davon scheiterten an der ersten Hürde für die Zulassung, nämlich 25.000 Unterschriften von Unterstützern zu erhalten. Andere wurden im Verlauf des Verfahrens von den Antragstellern aufgegeben, etwa weil auf Bundesebene das Recht geändert wurde (so beim Volksbegehren gegen Gentechnik), oder weil die nötige zweite Hürde (zehn Prozent der Wahlberechtigten müssen unterschreiben, also rund 600.000) verfehlt wurde. So war es etwa bei den Gegnern der Rechtschreibreform oder bei denen, die 2010 für das Festhalten an den „Vollen Halbtagsschulen“ stritten. Der Weg zu diesem Begehren war steinig, weil die Sammlung unterbrochen wurde und erst nach langem Rechtsstreit mit der Landesregierung fortgesetzt werden konnte.  Das einzige erfolgreiche Volksbegehren drehte sich 2001 um die Standards in Kindergärten. 639.000 Unterschriften wurden gesammelt, zum Volksentscheid kam es nur deshalb nicht, weil der Landtag sich den Forderungen der Initiative vorher angeschlossen hatte. Kritik übt „Mehr Demokratie“ nun daran, dass auf kommunaler Ebene in Niedersachsen die Bauleitplanung von Bürgerentscheiden ausgeklammert bleibt. Sobald der Rat einen Aufstellungsbeschluss fasse, sei direkte Demokratie ausgeschlossen. Weber klagt, ein solcher Fall sei in der Gemeinde Ottersberg (Kreis Verden) geschehen. Eine Initiative gegen ein Bioheizkraftwerk habe aufgeben müssen, nachdem ein Bebauungsplan angeschoben wurde. „Die Bürgerbeteiligung während der Bauleitplanung behandelt dann nur noch das Wie einer Planung, nicht mehr das Ob. Deshalb reicht sie nicht aus“, sagt Weber. Der Geschäftsführer von „Mehr Demokratie“ hält Volksentscheide grundsätzlich für richtig, selbst wenn immer mehr rechtspopulistische Gruppen diese verlangen und beispielsweise auch gegen neue Flüchtlingsheime durchsetzen wollen. „Das Vertrauen ins politische System wird gestärkt, wenn auch während der Wahlperiode wichtige Einzelfragen direkt vom Volk entschieden werden können.“
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #209.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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