
„Man kann über derartige Vorschläge nur erstaunt sein – sie sind nicht von dieser Welt“: Niedersachsen-Metall-Chef Volker Schmidt hat auf die jüngste Idee der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit völligem Unverständnis reagiert. Die Bundesvereinigung will erreichen, dass Arbeitnehmer künftig erst ab dem vierten Krankheitstag eine Krankschreibung vorlegen müssen, um das Gesundheitssystem effizienter zu machen. „Das ist absolut indiskutabel“, hält der Arbeitgebervertreter dagegen. „Solche Vorschläge leisten dem Missbrauch weiteren Vorschub und haben mit den tatsächlichen Problemen in den Betrieben nichts zu tun.“ Schmidt verweist auf die angespannte Lage in vielen Industriebetrieben: „Die deutsche Wirtschaft steht inmitten der schwersten Krise seit Bestehen unseres Landes – mit Lohnnebenkosten, die die Wettbewerbsfähigkeit auf das Schärfste belasten.“ Die Anstrengungen der Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesundheitswesen müssten jetzt darauf gerichtet sein, „die viel zu hohen Lohnnebenkosten zu senken“. Eine Verlängerung der Frist für Krankschreibungen sei dagegen ein Schritt in die falsche Richtung, der "dem Blaumachen unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung weiter Vorschub leistet“.

Kassenarzt-Chef Andreas Gassen hatte seinen Vorstoß im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland damit begründet, Bürokratie abzubauen und Arztpraxen zu entlasten. Die KBV schlägt vor, die Vorlagepflicht für eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von drei auf vier oder fünf Tage zu verlängern. Zugleich sollen Arbeitgeber nicht mehr das Recht haben, schon ab dem ersten Krankheitstag ein Attest zu verlangen. Damit will die KBV nach eigenen Angaben Arztpraxen von Millionen kurzer Konsultationen entlasten. „Die gesetzliche Möglichkeit für Arbeitgeber, bereits in den ersten drei Tagen die Vorlage einer Krankschreibung zu verlangen, produziert abertausende Arztbesuche, die aus unserer Sicht nicht zwingend notwendig wären“, sagte Gassen. Nach Berechnungen seines Verbands werden in Deutschland jährlich rund 116 Millionen Krankschreibungen ausgestellt, etwa 35 Prozent davon mit einer Dauer von höchstens drei Tagen. Entfielen diese Kurzbescheinigungen, könnten Arztpraxen um 1,4 Millionen Arbeitsstunden entlastet und rund 100 Millionen Euro eingespart werden.
Das niedersächsische Sozialministerium teilt diese Einschätzung nicht. Eine Diskussion über die Anhebung der Karenzzeit sei „nicht zielführend“, erklärte Ministeriumssprecher Felix Thiel auf Rundblick-Anfrage. Vielmehr müsse geschaut werden, wie strukturell dazu beigetragen werden könne, Arztpraxen und damit auch das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu entlasten. „Wir brauchen eine bessere Steuerung von Patientinnen und Patienten. Einen großen Beitrag wird deshalb das von der Bundesregierung geplante Primärarztsystem liefern.“ Das Konzept sieht vor, Patienten zunächst an eine hausärztliche Praxis zu binden, die Behandlungen koordiniert und unnötige Mehrfachbesuche verhindert.
Darüber hinaus verweist das Ministerium von Gesundheitsminister Andreas Philippi (SPD) auf den eigenen Zehn-Punkte-Plan für mehr Hausärzte sowie auf die laufende Krankenhausreform, die ebenfalls zur Entlastung des Gesamtsystems beitragen sollen. Von einer späteren Vorlagepflicht von Krankschreibungen erwartet das Ministerium indes keine "nennenswerte" Einsparung von Kosten oder Arztkapazitäten. Klar ist für die Landesregierung auch: Krankschreibungen dürften weiterhin nur auf Grundlage einer ärztlichen Untersuchung geschehen - im persönlichen Kontakt, per Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese. „An diesen Standards will das Ministerium nicht rütteln“, heißt es.
Die Ärztekammer Niedersachsen hält sich aus der Debatte heraus. Auf Rundblick-Anfrage verwies eine Sprecherin darauf, dass es sich „hauptsächlich um ein Thema der Kassenärzte“ handle. Das entspricht der Linie der Bundesärztekammer, die sich schon in der Debatte um die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag nicht beteiligen wollte, weil es laut Präsident Klaus Reinhardt um "keine Frage aus ärztlicher Betrachtung, sondern eine gesellschaftspolitische" gehe. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) war bis Redaktionsschluss nicht sprechfähig.


