„Rente bekommen wir doch eh nicht mehr.“ „Das 1,5-Grad-Ziel können wir uns aber sowas von abschminken.“ Oder: „Kinder will ich in dieser Welt ganz bestimmt nicht bekommen.“ Solche oder so ähnliche Aussagen habe ich des Öfteren schon von Gleichaltrigen gehört. Wie ernst die Absender das meinen, sei erst einmal dahingestellt. Entscheidend ist das Gefühl.

Meine Generation muss, anders als noch unsere Eltern, keine Angst haben, mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung arbeitslos zu werden. Unsere Jobchancen sind nahezu endlos – und dennoch empfinden sie etliche als perspektivlos. Wir können hinreisen, wo wir wollen, lieben, wen wir wollen und wählen, wen wir wollen. Und doch fühlen sich viele machtlos, zu wenig gesehen, zu wenig gehört und vor allem: nicht ernst genommen. Die Folge ist eine zunehmende Radikalisierung – insbesondere von links.
Vorbei sind die netten Freitags-Demonstrationen für das Klima, deren Organisatoren noch versucht hatten, den Rest der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, um so politischen Druck ausüben zu können. Gemeinsame Treffen zum Banner-Bemalen sind Geschichte, heute wird in „Boot Camps“ geprobt, wie man sich von der Polizei richtig wegtragen lässt oder wie man ruhig bleibt, wenn man von einem wütenden Autofahrer angeschrien wird. Vom niedersächsischen Landtag wird sich abgeseilt und den Abgeordneten der Zugang ins Gebäude schwieriger gemacht. Die „Letzte Generation“ hungert fürs Klima, klebt sich regelmäßig auf Straßen fest und erträgt mit stoischem Gleichmut die Wut der Autofahrer. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das so richtig eskaliert und ein Demonstrant angefahren wird. Und dann gibt es noch diejenigen, denen der selbsterklärte „zivile Ungehorsam“ nicht mehr ausreicht und die stattdessen das Recht in die eigene Hand nehmen wollen.

Jüngstes Beispiel ist die Verurteilung der Studentin Lina E., die zusammen mit drei Mitangeklagten Überfälle auf Rechtsradikale organisiert hat. Als Reaktion auf dieses Urteil des Oberlandesgerichts Dresden wurden in Leipzig-Connewitz Straßen mit brennenden Mülltonnen verbarrikadiert und Polizisten mit Steinen beworfen. Die Beamten reagierten mit Tränengas. Einen Tag später versammelten sich dann trotz Verbots wieder hunderte Demonstranten in der Stadt. Im Vorfeld war von diesen radikalen Gruppen für jedes Haftjahr von Lina E. ein Sachschaden von einer Million Euro angekündigt worden. Dieses Beispiel ist natürlich sehr extrem, aber es zeigt sehr deutlich: Nicht wenige Menschen unter 30 verlieren das Vertrauen in den Staat und die Demokratie. Sie sind wütend – auf die Politiker, die Richter und die Polizei.
Dabei ist es wichtig, zwischen zwei Gruppen zu differenzieren und nicht beide in einen Topf zu werfen: Da sind die einen, die vielleicht in ihrem Protest mal über die Stränge schlagen, aber an sich zutiefst auf die Grundsätze unserer Demokratie vertrauen und offen für einen Diskurs sind. Dazu zählen im weitestgehenden Sinne die Demonstranten, die sich mit Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay trafen. Sie wollten gehört werden und sind zufrieden mit der Zusicherung der Politik, dass man dabei ist, die Klimaziele zu verfolgen.
Die anderen rechtfertigen Radikalität, Gesetzesverstöße und Gewalt mit ihrem hehren Ziel und sind nur allzu gerne bereit, Unbeteiligte mit in ihren Protest zu ziehen. Im Festkleben auf Straßen ist zumindest noch ein gewisser Grund zu erkennen. Klar, Autos sind nicht gut fürs Klima. Stau und ständiges Anfahren allerdings erst recht nicht. Protestaktionen im Museum oder Restaurant entbehren allerdings meist jedweder Sinnhaftigkeit. Vor ein Gemälde von Caspar David Friedrich eine Neuinterpretation von „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ zu legen, nämlich mit brennenden Wäldern, wäre ein vorbildlicher Weg, auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Sogar eine ganze Kunstausstellung mit neuinterpretierten alten Werken wäre denkbar.

Wenn allerdings Vertreter der „Letzten Generation“ das Kunstwerk mit Kartoffelbrei bewerfen oder besprühen, sollte das auch als das bezeichnet werden, was es ist: Sachbeschädigung. Zerstörung unserer Erinnerungskultur. Dazu zählen auch die Farbanschläge auf Sylt, die den Einsatz fürs Klima konterkarieren. Unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls verbirgt sich ein Hass auf die Gesellschaft. Vor ein paar Tagen beschmierten Demonstranten eine Dior-Filiale auf Sylt orange und hielten ein Banner mit dem Satz „Für wen machen Sie Politik, Kanzler Scholz“ provokativ in die Höhe. Wer unzufrieden mit der Politik ist, sollte entweder dort mitwirken und diskutieren, wo die Politik auch ist – im Rathaus, Landtag oder auch Bundestag – oder selbst in die Politik gehen und etwas ändern. Seine Wut an der Bevölkerung auszulassen und sie somit gegen sich aufzubringen, ist garantiert der falsche Weg.
Richtig problematisch wird es dann, wenn sich Politiker klar auf die Seite dieser Demonstrierenden stellen, frei nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Auffällig oft sind das Vertreter der Grünen, die offenkundig auch mit radikalen Demonstranten sympathisieren. Als Politiker ist man immer noch ein Repräsentant des Staates und seiner Rechtsstaatlichkeit, man hat die Demokratie, deren Grundrechte und Werte dementsprechend auch zu vertreten und zu verteidigen.
Ein Timon Dzienus kann als Privatperson zwar kritisch über den Fall von Lina E. denken, sollte sich aber als Politiker und Bundessprecher der „Grünen Jugend“ seiner Reichweite bewusst sein. „Mit einem völlig übertriebenem und auf fragwürdigen Indizien beruhenden Prozess wird mit aller Härte gegen Lina E. und andere Linke vorgegangen. Was für ein Quatsch – deshalb #FreeLina!“, twitterte er noch vor den Ausschreitungen in Leipzig. Das ist ein Tabubruch. Solche Aussagen sind Wasser auf die Mühlen der Linksradikalen und brandgefährlich. Dzienus untergräbt damit unser Rechtssystem und öffnet die Tür für noch mehr Hass und Gewalt.
Je aggressiver die Proteste werden, desto härter schlägt die Polizei zurück. Ein Teufelskreis. Wie kommen wir da raus? Die Politik muss den Diskurs mit den einen suchen und sich zeitgleich hart gegen die anderen abgrenzen. Der Staat darf sich nicht erpressen lassen, muss klar auch Grenzen aufzeigen. Wer bewusst Gesetze bricht, der muss auch entsprechend verurteilt werden, selbst wenn die Gründe für sein Handeln verständlich wären. Überall braucht es Veränderungen, das ist der Lauf der Dinge. Dass es gerade der Jugend dabei häufig nicht schnell genug geht und sie deshalb aufs Tempo drückt, ist normal, aber jeder muss sich an das Recht halten.

Zeitgleich muss stärker Politik für die Jugend gemacht werden. Es ist ein Armutszeugnis, dass in der Corona-Pandemie lange vor allem alte und kranke Menschen und systemrelevante Berufe bedacht wurden, aber nicht die Kinder und Studenten. Immer häufiger leiden Jugendliche unter Depressionen, haben mit Angst- oder Essstörungen zu kämpfen. Es wird Zeit, dass die Politik zukunftsgerichteter wird und dem Klimaschutz noch stärker den Rang einräumt, den er in diesen Zeiten der dramatischen Erderwärmung haben muss. Zukunftsgerichteter muss auch die Bildungspolitik sein, das betrifft den Umgang mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz (KI). Eine kritische Jugend ist wichtig für die Politik – zeigt sie doch, dass viele Themen angepackt werden müssen und nicht aufgeschoben werden dürfen. Diese Botschaft kommt aber nur an, wenn alle Akteure sich auch an die Spielregeln der Gesellschaft halten – und die stehen nun mal im Gesetzbuch und liegen nicht in der Phantasie der Demonstranten.