12. Okt. 2015 · 
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Kommentar: Quo vadis Straßennamen?

(rb) Flüchtlingsdrama, Volkswagenkrise und nun auch noch dies: Streit über Straßennamen. Eine junge Göttinger Wissenschaftlerin hatte mit ihrer Dissertation einen Stein ins Rollen gebracht, der den Sockel, auf den wir Niedersachsen unseren ersten Ministerpräsidenten Hinrich-Wilhelm Kopf über alle Parteigrenzen hinweg gestellt hatten, arg ins Schlingern brachte. „Fest wie unsre Eichen halten alle Zeit wir stand“, soll der „rote Welfe“ gern gesungen haben. So wie er singen auch heute noch viele den nicht ganz unproblematischen Text des Niedersachsenliedes mit Inbrunst, z. B. auf dem hannoverschen Schützenfest. Sollten die Sängerinnen und Sänger im Anschluss daran noch in der Lage sein, einen Altstadtbummel zu machen, und am Landtag vorbeikommen, müssen ihnen seit einiger Zeit jedoch Zweifel kommen, ob das mit den „Eichen“ und dem „Standhalten“ wirklich zutrifft , denn der Platz vor dem Lavesschen Portikus ist nicht mehr der alte. Aus „Hinrich“ wurde „Hannah“. Kein Zweifel, Hannah Arendt ist eine renommierte Frau und im Dschungel unserer über 3500 Straßennamen allemal vorzeigbar, auch wenn sie zuweilen Auffassungen vertrat, die selbst Wohlwollenden bis heute ein Kopfschütteln abverlangt. Kaum hatten sich die Wogen der Empörung über die Namensänderung vor dem Leineschloss gelegt, prasselten dieser Tage einem Tsunami gleich die Leserbriefe auf die Schreibtische von Zeitungsmachern, als bekannt wurde, dass nach dem Willen einer Kommission weitere Straßennamen in Hannover exekutiert werden sollen. Der Vorschlag, die Anwohner der betroffenen Straßen zu befragen, liest sich gut, aber er entlarvt sich schnell als populistisch, denn Straßennamen gehören nicht den Anliegern, sondern sind Teil einer Identität, die auf die Gesamtheit einer Stadt bezogen ist. Die Verbissenheit, mit der die Diskutanten häufig aufeinander losgehen, legt einmal mehr etwas eigentlich Bestürzendes offen: 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg macht nämlich ein nicht ganz kleiner Teil der Bevölkerung deutlich, dass wir Deutschen mit unserer Geschichte immer noch nicht im Reinen sind. Die einen verteidigen etwas, das ethisch nun einmal nicht zu verteidigen ist, und die anderen offenbaren mit oft arroganter Überheblichkeit ein mangelndes Einfühlungsvermögen, das sich maßgeblich aus ihrem Geburtsdatum speist. Am einfachsten haben es da die Ideologen, die sich an dem notwendigen Diskussionsprozess nur allzu gern beteiligen. Ihre Subjektivität, aus welcher Ecke sie politisch auch immer kommen mag, bewirkt eine Art unschuldsbezogener Befreiung, denn sie entbindet von der notwendigen Differenziertheit historischen Denkens. Natürlich kann und darf es keine kollektive Gleichschaltung bei der Beurteilung unserer Vergangenheit geben. Gefragt ist vielmehr die Fähigkeit zu einer sachlich abwägenden und die Meinung anderer achtenden Gesprächs- und Diskussionskultur. Diese Forderung schreibt sich leicht, ist in der Praxis aber nur sehr schwer umzusetzen, denn jeder Beteiligte schleppt in Gestalt eigener politischer Überzeugungen und Erfahrungen immer ein oft schweres Gepäckstück mit sich. Wir können uns noch so sehr darum bemühen, aber die ganz persönlich erlebte Sozialisation und Erfahrung ist immer dabei, wenn es um die Beurteilung der Vergangenheit geht. Selbst die historische Wissenschaft ist nicht frei davon. Keimfreiheit gibt es in der Naturwissenschaft; die Geisteswissenschaft kennt einen solchen Zustand nicht. Das macht sie spannend, aber zugleich auch sehr leicht angreifbar. Eine Straße nach einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte zu benennen, ist ein Akt, bei dem versucht werden soll, eine bestimmte Person nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dabei muss immer klar sein, dass die dafür Verantwortlichen nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht haben, neue Erkenntnisse und Bewertungen zum Anlass zu nehmen, um Straßen umzubenennen. Dass bei der notwendigen Einschätzung auch Probleme entstehen können, ist selbstverständlich. Entscheidend wird am Ende sein, dass erkennbar wird, was die unmittelbar Beteiligten sachlich leitet, wie sie argumentieren und miteinander umgehen. Gerade weil dieser Vorgang mit vielen divergierenden Bewertungen und Emotionen verbunden ist, muss der Austausch von Straßennamen in einem außerordentlich offenen Prozess verlaufen. Die Erwartung, man könne am Ende eines solchen Verfahrens die Übereinstimmung aller daran Interessierten erreichen, ist jedoch abwegig. Ziel sollte es vielmehr sein, eine Akzeptanz zu bewirken, die den Unterlegenen die Achtung vor der gegen ihre Auffassung gefassten Entscheidung ermöglicht. Einmal mehr sind die Probleme von Straßennamen ein Beispiel dafür, dass man unter die Geschichte keinen Schlussstrich ziehen kann. Wer dies versucht, wird immer wieder von ihr eingeholt. Jürgen Gansäuer M.A. (Landtagspräsident a.D.)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #186.
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