Wenn Menschen aus der Ukraine kommen, könne und wolle man sie nicht abweisen, betont Frank Klingebiel, Oberbürgermeister von Salzgitter und Präsident des Niedersächsischen Städtetages (NST). Aber objektiv sei in vielen Kommunen die Lage so, dass kein Raum für die Unterbringung dieser Menschen mehr vorhanden sei – weder für Wohnungen, noch für Kindergärten und Schulen. „Da müssen wir dann völlig neu an das Thema herangehen“, sagt Klingebiel im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick.

Rundblick: Momentan kommen kaum Menschen aus der Ukraine zu uns. Beginnt sich die Lage zu entspannen?
Klingebiel: Das ist eine trügerische Ruhe. Niedersachsen hat seine Quote übererfüllt, daher werden jene, die vor dem Krieg zu uns fliehen, in andere Bundesländer verteilt. Wenn wir jetzt aber anfangen würden, die freien Aufnahmekapazitäten wieder abzubauen, könnte das eine Fehlentscheidung sein. Wer weiß denn, wie sich der Krieg entwickelt und ob nach einer Frühjahrsoffensive der Russen sich nicht viele hunderttausend Menschen auf den Weg zu uns machen?
Rundblick: Was müsste die Bundesregierung jetzt tun? Sind die bisherigen Vorbereitungen ausreichend?
Klingebiel: Ich sehe da große Defizite. Nach den derzeit in Deutschland geltenden Regeln genießen die aus der Ukraine kommenden Menschen bei uns drei Monate lang absolute Freizügigkeit. Erst danach müssen sie sich bei den Behörden melden, wenn sie soziale Leistungen erhalten wollen. Ukrainer sind bei uns willkommen, wir können niemanden abweisen, der von Putins Truppen vertrieben wird und bei uns Schutz bekommen will. Nur ist es Aufgabe der Bundesregierung, auf europäischer Ebene einen Plan zu entwickeln, wie die Flüchtlinge sinnvoll verteilt werden können. Es ist niemandem damit geholfen, wenn Menschen zu uns kommen, die nicht mehr die erforderliche Unterstützung bekommen können. Wir müssen auch aufpassen, dass nicht Neid und Missgunst gegenüber diesen Menschen entstehen, die Solidarität und Hilfe nötig haben.
Rundblick: Ein Zuzugstopp für Ukrainer in Deutschland?
Klingebiel: Nein, sicher nicht. Aber viele Städte und Kreise, die bisher besonders häufig angesteuert wurden, brauchen eine Atempause bei der Aufnahme. Das gelingt nur, wenn auf EU-Ebene ein Szenario entworfen wird, wie angemessen und regional verteilt auf einen womöglich wachsenden Strom von Kriegsflüchtlingen reagiert werden soll.
Rundblick: Welche Kommunen sind in Niedersachsen denn besonders betroffen?
Klingebiel: Über Salzgitter will ich hier nicht reden, die Situation ist seit Jahren besonders. Was die Ukrainer angeht, sind die Braunschweiger, die Osnabrücker und die Hannoveraner stark beansprucht. Das liegt auch daran, dass viele Flüchtlinge zuerst die Großstädte ansteuern. Vielleicht auch, weil sie nicht in der Absicht kommen, sehr lange zu bleiben – und aus Großstädten, so glauben viele, können sie am schnellsten wieder zurück in ihre Heimat, wenn es die dortigen Verhältnisse zulassen.
Rundblick: Was genau bemängeln Sie an den bisher vom Bund bereitgestellten Hilfen?
Klingebiel: Das ist ein Bereich, bei dem Kommunen und Landesregierung an einem Strang ziehen. Für 2022 hat der Bund rund 3,5 Milliarden Euro für die Länder und Kommunen bereitgestellt, für 2023 bisher noch einmal 1,5 Milliarden. Für Niedersachsen sind das knapp 500 Millionen Euro. Das klingt nach viel Geld, reicht aber hinten und vorne nicht. Die Erstaufnahme könne man davon vielleicht noch bestreiten. Aber zum einen geht es um die Vorhaltung von Aufnahmeplätzen als Angebot für den Fall, dass plötzlich wieder viel mehr Menschen kommen. Die Kosten für Kindergärten und Schulen, denn häufig kommen Mütter mit Kindern, sind da gar nicht berücksichtigt.
Rundblick: Mit der Kostenerstattung gibt es da dann noch besondere Probleme…
Klingebiel: Ja. Die Flüchtlinge aus der Ukraine werden nicht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sondern nach dem Sozialgesetzbuch eingestuft. Die Kommunen müssen sich bei den Ukrainern daher in einem nicht unerheblichen Maße unmittelbar an den Kosten der Unterkunft beteiligen. Sie bleiben bei allen Flüchtlingen und Vertriebenen vor allem auf Ausgaben in dem Fall sitzen, in dem sie Wohnraum und Unterbringungskapazitäten geschaffen haben, diese aber vorläufig leer bleiben.
Rundblick: Wie hoch sind diese Vorhaltekosten, die die Kommunen in Niedersachsen nicht erstattet bekommen?
Klingebiel: Für Januar gehe ich von 9 Millionen Euro landesweit aus – das wären, auf ein ganzes Jahr hochgerechnet rund 100 Millionen Euro.
Rundblick: Sprechen wir noch mal über Salzgitter. Schon vor Jahren, als noch keine Ukrainer zu uns geflohen waren, hatte Salzgitter eine sehr hohe Zahl an Flüchtlingen. Das hatte den sozialen Zusammenhalt in der Stadt erheblich gefährdet, sodass noch 2017 ein Zuzugstopp erwirkt werden musste. Seither können sich anerkannte Asylbewerber in Salzgitter nicht niederlassen. Hat sich dieser Zuzugstopp entlastend ausgewirkt?
Klingebiel: Was die Zuweisung von Flüchtlingen und Asylbewerbern angeht, sind auch wir beteiligt. Etwa 1200 Menschen sind auch aus der Ukraine nach Salzgitter gekommen, wir haben sie nicht zurückgewiesen. Klar ist leider nur: Ich habe hier keine Möglichkeit, ihnen Kindergartenplätze anzubieten. Viele nutzen die Kindergärten dann auch nicht, wir haben ja keine Pflicht. Aber schwierig wird es, wenn die Kinder schulpflichtig werden. Wir sind in Salzgitter jetzt noch dabei, drei Kindergärten und zwei Grundschulen zu bauen, die aufgrund der Zahl der Asylbewerber von 2019 in die Wege geleitet wurden. Dazu nutzen wir auch die besondere, 50 Millionen Euro umfassende Strukturhilfe des Landes. Die Fertigstellung ist, gemäß allen Vergaberegeln und Ausschreibungsvorgaben, für 2025 vorgesehen. Das macht einen fassungslos, wenn man sieht, wie langsam wir selbst bei höchster Eile auf die Herausforderungen reagieren können.
Rundblick: Wie kann man denn in solchen Fällen überhaupt sinnvoll vorgehen?
Klingebiel: Durch radikales Umdenken, durch absolute Flexibilität. Wir müssen schauen, ob Erwachsene aus der Ukraine eingesetzt werden sollten, die Kinder zu betreuen und ihnen etwas beizubringen. Wir müssen prüfen, ob Kinder in umgeräumten Gaststätten untergebracht werden können, die zu Not-Kindergärten werden. Und wir müssen gucken, ob die Vereine und ihre Angebote auch genutzt werden können. Das ist alles nicht einfach und ruft viel Widerspruch hervor. Ich glaube nur: Anders wird es wohl nicht klappen.