Shterna Wolff, Michael Fürst und Rebecca Seidler | Foto: Beelte-Altwig; Link; Axel Martin/BfDT

Jan Chaim reicht gerade so über den Tisch mit den großformatigen Bilderbüchern. Der Junge mit der Kippa führt stolz ein illustriertes Wörterbuch vor. Zu jedem Begriff gibt es ein Bild, dazu das Wort auf Deutsch und Hebräisch. Nur die komplizierte Sache mit den Vokalen zu erklären, die im Hebräischen nicht geschrieben werden, aber für Leseanfänger als Punkte über den Buchstaben markiert sind, das überlässt er dann doch seinem Vater, dem Verleger Igor Jehoschua Jourist. Im Hamburger Jourist Verlag erscheinen Wörterbücher und Nachschlagewerke in 35 Sprachen – und ein kleines Programm jüdischer Literatur, vor allem für Kinder. Diese Nische zu bedienen ist für den Verleger kein Geschäft, erklärt er. Eher so etwas wie eine religiöse Pflicht. „Ich habe selbst drei Kinder“, sagt Jourist bei der Podiumsdiskussion im Haus Benjamin, dem Zentrum des jüdischen Vereins Chabad Lubawitsch Niedersachsen e.V. in Hannover. „Ihr Jüdischsein muss unterstützt werden. Es ist ein Gebot, das Judentum weiterzugeben.“

Verleger Igor Jehoschua Jourist bekommt auf der Buchmesse Unterstützung von Sohn Jan Chaim. | Foto: Beelte-Altwig

Die Veranstaltung ist selbstbewusst überschrieben als „Erste jüdische Buchmesse Deutschland“. Lokale Politprominenz ist gekommen, das Ministerium für Wissenschaft und Kultur hat die Schirmherrschaft übernommen. Von den Dimensionen her erinnert die Veranstaltung eher an ein Gemeindefest mit Bücherständen. Sieben Verlage präsentieren sich in einem Zelt, es gibt Essen, Trinken und ein Kinderprogramm. Ein Kalligraph schreibt für die Besucher ihre Namen auf Hebräisch. Zahlreiche bärtige Rabbiner in schwarzen Anzügen sind gekommen, um ihres verstorbenen Kollegen Benjamin Wolff zu gedenken. Gemeinsam mit seiner Frau Shterna hat er das Zentrum in Hannover aufgebaut. Jetzt leitet Shterna Wolff das nach ihrem Mann benannte Haus, als einzige Frau in einer Führungsposition in der orthodoxen Chabad-Bewegung.

Michael Fürst, langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hannover und auch des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, hat sie überdies vorübergehend mit der Leitung seines Jugendzentrums beauftragt – trotz inhaltlicher Differenzen. „Chabad ist ein amerikanisches Movement“, sagt er. „Sie sind grandios als Verkäufer und grandios im Medienbereich.“ Überall auf der Welt, auch dort, wo es keine jüdische Gemeinde gibt, finden Juden einen Chabad-Rabbiner als Seelsorger und Ansprechpartner. In Hannover allerdings gibt es starke jüdische Gemeinden. Hier bestehe eigentlich kein Bedarf nach ihrem Angebot, meint Fürst: „Keiner hat sie hergebeten.“ Wenn die Politik die Bewegung unterstützt, unterstütze sie damit die demokratisch aufgestellten jüdischen Gemeinden und das hier gelebte Judentum nicht. „Was wir hier leben, ist nicht dieses schwarze, ultraorthodoxe Judentum“, sagt er. Doch seit die Wolffs 2005 nach Hannover gekommen sind, hat die Bewegung zielstrebig Fuß gefasst.

Shterna Wolff eröffnet die „Erste jüdische Buchmesse Deutschland“. | Foto: Beelte-Altwig

Shterna Wolff erklärt in ihrer Begrüßung die überragende Bedeutung von Büchern im Judentum: „Wir sind der größte Book-Club der Welt. In der jüdischen Welt ist ein Buch etwas Lebendiges.“ Man setzt sich nicht auf ein Buch, Bücher werden sogar begraben. Die Messe soll künftig jedes Jahr stattfinden und weiterwachsen, kündigt Wolff an. Denn es sei ansonsten nicht einfach, an religiöse Literatur in deutscher Sprache zu kommen. Alles, was Shterna Wolff über Bücher und Judentum sagt, findet volle Zustimmung bei Rebecca Seidler. Nur in einem Punkt widerspricht die Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, die zugleich Vorsitzende des progressiven „Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden“ ist: Dass jüdische Literatur auf Deutsch Mangelware sei. Denn von Anfang an gehört zur Gemeinde in Hannover eine Bibliothek mit Werken jüdischer Autoren auf Deutsch, Russisch, Hebräisch, Englisch und Jiddisch. Hier gibt es theologische Literatur ebenso wie Kinderbücher, Biographien, Kochbücher und Unterhaltung. Jeder Leser mit einem hannoverschen Bibliotheksausweis kann Bücher ausleihen.

In einer solchen Gemeinde sind andere Bücher gefragt als bei der orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch. Seidler legt Wert darauf, das Judentum nicht als etwas „Exotisches“ darzustellen. Wenn die Schüler und Lehrkräfte, die sie häufig im Gemeindezentrum empfängt, staunend sagen: „Ach, so normal sehen Juden aus“, dann ist die promovierte Pädagogin zufrieden. „Wir sind selbstbestimmt jüdisch und zugleich Teil dieser Gesellschaft“, sagt sie. An der Pinnwand des Gemeindezentrums wirbt ein Aushang für ein Programm des Zentralrates der Juden in Deutschland: Bei dem Projekt „PJ Library“ können Familien kostenlos ein Bücherpaket abonnieren, das Kinder altersgemäß Schritt für Schritt ins Judentum einführt. „Das ist großartig. Ich hätte mir das gewünscht, als meine Kinder klein waren“, sagt Rebecca Seidler.

In der Bibliothek der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover gibt es mehr als 10.000 Bücher jüdischer Autoren. Bibliotheksmitarbeiter David Rausch und Geschäftsführerin Rebecca Seidler verleihen sie an jedermann. | Foto: Beelte-Altwig

Eines ihrer Lieblingsbücher aus dem Abonnement-Programm bindet die Riten rund um das Fest Chanukka in eine Geschichte an, ohne sie explizit zu beschreiben. Stattdessen gibt es einen authentischen Einblick, wie der Alltag einer jüdischen Familie aussehen kann. „Es gibt nicht ,das‘ Judentum“, sagt Seidler. Gute Kinderbücher sollen für sie diese Vielfalt abbilden. Das gilt auch für die Geschlechterrollen: „Orthodoxe Kinderbücher bilden die klassischen Genderrollen ab: Jungen und Männer tragen Kippa, Frauen zünden die Schabbat-Kerzen an“, erklärt sie. Beim Blättern in „Mein Buch der jüdischen Feiertage“ aus dem Jourist Verlag ahnt man, was sie meint: Am Familientisch sitzen Mädchen und Jungen sortiert nach Geschlecht, ein Junge ergreift das Wort. Ein anderes Bild zeigt Jungen mit Gebetsschal, Mädchen ohne, die Tora-Rolle trägt einer der Jungen.

Die Unzufriedenheit mit der traditionellen Rollenverteilung war ein gewichtiger Grund dafür, dass in Hannover 1995 eine progressive Gemeinde entstanden ist. Rebecca Seidlers Mutter Katarina gehörte zu den Gründerinnen. „Heute sind wir die größte Reformgemeinde in Deutschland“, sagt die Tochter. Als Kind hat sie die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Hannover besucht, deren Tradition sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. „Es kam mir vor, als wäre ich nur Statistin im Gottesdienst“, erinnert sich Rebecca Seidler. „Mein Vater und mein Bruder lasen aus der Tora vor und ich konnte nur zusehen. Das passt nicht zu meiner jüdischen Identität.“

„Die Trennung war nicht notwendig und tut den jüdischen Gemeinden nicht gut“, kommentiert Michael Fürst. „Aber ich kann mit dem Unglück gut leben.“ Auch Rebecca Seidler stellt den Konflikt als Teil der Vergangenheit dar. „Herr Fürst und ich kennen uns gut. Wir können beide gut austeilen und gut einstecken“, sagt sie lachend. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel sind beide gemeinsam mit Kommunalpolitikern in die Öffentlichkeit gegangen. Es wurde über eine Annäherung spekuliert. Doch ihre Bewertung der Lage könnte unterschiedlicher kaum sein: „Herr Fürst spielt die Bedrohung durch den Antisemitismus herunter“, kritisiert Rebecca Seidler. „Ich glaube kaum, dass er Entführungs- und Vergewaltigungsdrohungen bekommt wie ich. Antisemitische Menschen arbeiten sich lieber an mir ab.“ Sie begleitet immer wieder Eltern aus ihrer Gemeinde zu Schulleitungen, um sie für die Situation jüdischer Kinder zu sensibilisieren. Denn wenn Kinder schweigen, heiße das nicht, dass nichts vorgefallen sei. Sie fürchten sich vielmehr, als Petze zu gelten. Lehrkräfte sagen manchmal beschwichtigend: „Andere Kinder werden auch mal gemobbt“, und Seidler bemüht sich dann zu erklären: „Antisemitismus ist keine Form des Mobbings.“

Yazid Shammout (links), Vorsitzender der palästinensischen Gemeinde Hannover, und Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. | Foto: Axel Martin/BfDT

Michael Fürst kontert: „Ich bin vielleicht der bekannteste Jude in Niedersachsen. Glücklicherweise ist mir noch nie etwas passiert.“ Eine latente Bedrohung könne niemals ausgeschlossen werden, doch eine akute Bedrohungslage sieht er nicht. „Mein Schutz ist die demokratische Gesellschaft.“ Dazu gehöre seine Freundschaft zum Vorsitzenden der palästinensischen Gemeinde Hannover, Yazid Shammout. Die enge Abstimmung zwischen den beiden Männern, ist Fürst überzeugt, habe bisher dafür gesorgt, dass es bei Demonstrationen in Hannover keine antisemitischen Ausschreitungen gab. Trotzdem konnte das Landeskriminalamt ihn nach dem Anschlag auf die Synagoge in Oldenburg überzeugen, ein elektronisches Überwachungssystem zu installieren. Künftig soll nach seinen Vorstellungen ein Team von Sicherheitskräften von einer Zentrale aus Kamerabilder aller Gemeinden des Landesverbandes im Blick behalten.

Die Verleger Igor Jehoschua Jourist (l.) und Chaim Rittri (r.) diskutieren im Chabad-Zentrum. Ein Aufsteller erinnert an den Gründer Benjamin Wolff. | Foto: Beelte-Altwig

Auch die Buchmesse im Chabad-Zentrum hatte diese trotzige Unbeschwertheit: Keine Zäune, keine Taschenkontrollen. Jeder konnte ungehindert auf das Gelände spazieren. „Das wäre bei uns anders“, kommentiert Rebecca Seidler. Bei allen theologischen Unterschieden: In Sicherheitsfragen bietet sie Shterna Wolff ihre Expertise an. Auch in orthodoxen Kreisen stellt man fest, dass in diesen Zeiten Mut dazu gehört, sich zum Judentum zu bekennen – zum Beispiel an der schwankenden Nachfrage nach religiösen Kinderbüchern. „Viele Eltern überlegen: Soll ich mein Kind wirklich jüdisch erziehen?“, berichtet Jehoschua Jourist. Wenn sie solche Gedanken hört, kontert Shterna Wolff: „Jüdisch ist das Kind doch sowieso. Dann soll es lieber ein stolzer Jude sein.“ Seit dem 7. Oktober 2023 finden viele Jugendliche und Studenten den Weg ins Chabad-Zentrum, erzählt Wolff. Sie wollen darüber diskutieren, was es heißt, jüdisch zu sein – manchmal bis in die frühen Morgenstunden. Das ist in der liberalen Gemeinde ähnlich. Auch Rebecca Seidler sagt: „Die Besinnung auf die jüdische Identität ist stärker geworden.“ Manche tragen nach außen keinen Davidstern mehr, dafür ist der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde enger geworden. Nur ein Beispiel: Jeden Tag kochen Senioren freiwillig für das Gemeindeteam, um ihr Engagement zu unterstützen.