Der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hat das Leben von Juden auch in Niedersachsen von Grund auf verändert. Jüdische Eltern haben sich in der Folge nicht getraut, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Gläubige hängten die Mesusa von ihren Eingangstüren ab, weil sie von Paketboten und Pizzalieferanten angefeindet wurden, berichtet Abraham Toubiana, Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen. Jüdische Frauen sahen sich in sozialen Netzwerken mit übelsten Entführungs- und Vergewaltigungsphantasien konfrontiert.

Das Überschwappen des Konflikts nach Europa war kalkuliert, erklärte der Münsteraner Präventionsexperte Ahmad Mansour bei einer Anhörung im Justizausschuss des Landtages. Denn die Hamas und ihre Unterstützer starteten zeitgleich mit den Gewaltexzessen einen „gut vorbereiteten Tsunami“ von Falschinformationen in den sozialen Medien. „Hamas möchte, dass die Leute in Europa auf die Straße gehen.“ Tiktok, erklärte der palästinensisch stämmige Psychologe, stehe im Zentrum der Propagandastrategie, die auf die Emotionen junger Muslime zielt und der sich kaum jemand entziehen kann.
Der aktuelle Konflikt trifft auf jahrhundertealten Antisemitismus – sowohl in Europa als auch in der arabischen Welt. Das wurde in der Anhörung deutlich. „Ich bitte Sie, alle Milieus zu berücksichtigen. Wir erleben Bedrohungen von mehreren Seiten“, sagte Rebecca Seidler, die Vorsitzende des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden, der das progressive Judentum repräsentiert. Sie berichtete von einer Veranstaltung in dieser Woche, bei der ihr von linker Seite entgegengeschleudert wurde: „Haben Sie als Juden nichts gelernt aus Auschwitz?“. Und sie kritisierte die AfD dafür, sich nicht von den Vertreibungsplänen aus Potsdam zu distanzieren und einen „lupenreinen Faschisten“ wie Björn Höcke in ihren Reihen zu dulden. Das brachte den AfD-Abgeordneten Thorsten Paul Moriße auf den Plan. Er nannte das „Bashing“ gegen die AfD verwerflich und forderte von Seidler, sich neutral zu verhalten. Der meiste Antisemitismus sei migrantisch, so Moriße.

Dies jedoch konnten die Experten differenzieren. Das Recherchenetzwerk Rias erfasst antisemitische Vorfälle landesweit, auch unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit. Hier wird auch der weltanschauliche Hintergrund der Täter verzeichnet. Am häufigsten sei hier ein „anti-israelischer Aktivismus“ das Motiv, der sich weder als links noch rechts noch islamistisch einordnen lasse, berichtete Katarzyna Miszkiel-Deppe von Rias. In 44 Prozent der Fälle sei der politische Hintergrund unbekannt. „Antisemitismus ist ein niedrigschwelliges Alltagsphänomen“, so ihr ernüchterndes Fazit. 39 Prozent der gemeldeten Vorfälle sind auf offener Straße passiert. Die Anfeindungen lösten einen Teufelskreis aus, erklärte Seidler: Juden trauten sich nicht, sich zu ihrer Zugehörigkeit zur Community zu bekennen. Deswegen gebe es weniger Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft und statt echter Begegnungen prägten Verschwörungserzählungen das Bild vom Judentum.
Alle Experten forderten, dass in der Schule mehr Prävention betrieben werden müsse. Lehrkräfte seien vielfach überfordert, hätten Angst davor, über Antisemitismus und den Israel-Palästina-Konflikt zu sprechen, oder fühlten sich nicht kompetent genug. Seidler plädierte dafür, den Nahostkonflikt auszuklammern und lieber über das Zusammenleben vor Ort zu sprechen. „Jüdische Schüler dürfen nicht als Stellvertreter Israels adressiert werden“, argumentierte sie. Mansour zeigte dagegen die Perspektive muslimischer Schüler. Für sie ist das Thema enorm wichtig und emotional. Damit sie nicht der Propaganda auf den Leim gehen, müssten sie seriöse Informationen bekommen und die Möglichkeit, sachlich und fair zu diskutieren. Einig waren sich Experten und Abgeordnete darin, dass Demokratiebildung auch in sozialen Medien stattfinden müsse, wo Jugendliche einen großen Teil ihres Alltags verbringen.
Yevgen Bruckmann vom progressiven Jugendverband TaMar e.V. ist überzeugt: Es gebe Multiplikatoren, die Jugendliche mit ihren Inhalten zum Thema erreichen können. Er schlug vor, diese Influencer für eine Zusammenarbeit zu gewinnen und mit ausreichenden Mitteln auszustatten, etwa in Kooperation mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch das wurde bei der Anhörung deutlich: Stellen für Prävention und Dialog sind häufig befristet und prekär ausgestattet. So bekam Seidler direkt in der Anhörung eine lang erwartete Förderzusage für ein Projekt, das erst über die sogenannte „parlamentarische Liste“ vor Sparmaßnahmen gerettet worden war. Kritik gab es an der Arbeit des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus, Prof. Gerhard Wegner. „Uns sind seine Aufgaben nicht deutlich geworden“, sagte Seidler und monierte, dass er sich seit seinem Amtsantritt 2023 noch nicht beim progressiven Landesverband gemeldet habe.