18. Okt. 2023 · 
Parteien

Ist das Landtagspräsidium zu streng mit den Abgeordneten der AfD?

Im Landtag geht es manchmal heftig zu. Der jeweilige Sitzungsleiter, also die Landtagspräsidentin Hanna Naber oder einer ihrer Stellvertreter, muss dann auf die Ordnung im Hause achten. Wenn jemand am Rednerpult in seinen Formulierungen überzieht oder wenn ein Zwischenrufer Anstand und Sitte verletzt, muss er eingreifen. Das ist in der Praxis höchst unterschiedlich und hängt von der aktuellen Stimmung im Saal ebenso ab wie vom Gemüt und der Tagesform des amtierenden Landtagspräsidenten.

Seit geraumer Zeit aber häufen sich Mitteilungen von AfD-Politikern, die meinen, die Vertreter ihrer Fraktion würden häufiger gerügt als Vertreter anderer Fraktionen, an ihre Auftritte werde offensichtlich ein strengerer Maßstab angelegt – und die Gleichbehandlung gehe dabei verloren. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf?

Kurioses Schauspiel: Im Oktober-Plenum kam es zu Unstimmigkeiten zwischen Landtagsvizepräsidentin Meta Janssen-Kucz (Grüne) und dem AfD-Abgeordneten Peer Lilienthal. | Foto: PlenarTV-Screenshot/Kleinwächter

Zunächst mal lohnt die Rückschau auf einige Szenen aus dem Parlament. Ein Beispiel liegt noch nicht lange zurück, es ist die Rede des AfD-Finanzpolitikers Peer Lilienthal in der Debatte über die Landeswohnungsgesellschaft am 12. Oktober. Er warf Wirtschaftsminister Olaf Lies den Satz zu: „Wie arrogant ist das denn?“, nachdem Lies zuvor auf eine Frage nach der Bezugsfertigkeit der ersten vom Land nach neuen Kriterien geförderten Sozialwohnung geantwortet hatte: „Dann, wenn sie bezugsfertig ist.“ Die Wortwahl „arrogant“ in Lilienthals Reaktion auf Lies veranlasste Landtagsvizepräsidentin Meta Janssen-Kucz (Grüne) zu einer Intervention. Sie unterbrach den AfD-Redner und erklärte, Lilienthal solle zum einen nicht so laut reden, zum anderen sei es „absolut nicht zulässig und gehört nicht in dieses Haus“, wenn ein Abgeordneter ein Kabinettsmitglied beleidigt. „Ich habe das als Beleidigung aufgefasst und würde Sie bitten, sich zu entschuldigen“, sagte Janssen-Kucz.

Daraufhin antwortete Lilienthal: „Nein, das mache ich nicht. Ich habe niemanden beleidigt.“ Die Entgegnung von Janssen-Kucz war, dass sich das Präsidium nun das Protokoll später genau angucken werde. Der Ton von Lilienthal habe „im Parlament nichts zu suchen“. Als Lilienthal daraufhin auf seine Rechte als frei gewählter Abgeordneter hinwies, meinte Janssen-Kucz, diese Rechte seien bekannt und zu deren Wahrung agiere ja das Präsidium. Dann kam Unruhe im Plenarsaal auf, und Janssen-Kucz fügte hinzu: „Es handelt sich hier um keinen Skandal, liebe AfD-Fraktion.“ Dies reizte nun den AfD-Abgeordneten Stephan Bothe zu dem Zwischenruf an Janssen-Kucz „Sie sind untragbar.“ Dafür erteilte dann die Vizepräsidentin Bothe einen Ordnungsruf.

Lilienthal sollte sich für kritische Äußerungen entschuldigen, was er nicht einsah. | Foto: PlenarTV-Screenshot/Kleinwächter

Die Eskalation dieses Wortwechsels war sicher mehreren Faktoren geschuldet: Zum einen die Lautstärke von Lilienthals Auftritt, dann einer recht hohen Unruhe im Saal, aber auch der Gereiztheit von Janssen-Kucz. Am Vortag war die Lautstärke eines AfD-Abgeordneten bereits von Vizepräsidentin Barbara Otte-Kinast (CDU) gerügt worden, das war Stephan Bothe. Der hatte daraufhin lässig reagiert: „Ich bin frei gewählter Abgeordneter und entscheide selbst, wie laut ich hier spreche.“ Dass der nun in der Rede von Lilienthal erwähnte Vorwurf der „Arroganz“ einer Beleidigung gleichkomme, wie Janssen-Kucz in dieser Situation als amtierende Präsidentin erklärte, ist ungewöhnlich.

Normalerweise zählt der Begriff zum häufig verwendeten und nicht gerügten Vokabular von Plenardebatten. Ist aber nun die Einschätzung berechtigt, dass die AfD besonders streng betrachtet wird bei ihren Auftritten? Es fällt auf, dass beispielsweise Vorwürfe in Richtung AfD, beispielsweise der, diese Partei sei „nicht demokratisch“ oder Politiker der AfD seien „menschenverachtend“ (Originalton des SPD-Abgeordneten Ulrich Watermann), wiederholt vom jeweiligen Landtagspräsidenten geduldet und nicht mit einem Ordnungsruf belegt wurden.

Eine andere Sache ist, wie mit Begriffen wie „Heuchelei“ oder „Scheinheiligkeit“ umgegangen wird. Der Blick in die Protokolle zurückliegender Jahre zeigt, dass derartige Begriffe mal gerügt wurden (etwa 2004 von Landtagsvizepräsidentin Astrid Vockert gegenüber Jörg Bode von der FDP) und mal nicht (2010 und 2016). In diesem Jahr sorgte ein Auftritt von Omid Najafi (AfD) im Landtag Ende Januar für Furore, auch damals präsidierte Janssen-Kucz. Auch dieser Vorgang war bemerkenswert, weshalb er hier näher geschildert werden soll. Najafi warf den anderen Fraktionen vor, mit „unkontrollierter Einwanderung“ die Gefährdung junger Frauen in Deutschland in Kauf genommen zu haben.

Als die Lautstärke im Saal zunahm, sagte der AfD-Politiker in noch höherer Tonfrequenz, um die anderen zu übertönen: „Jetzt zuhören!“, woraufhin Janssen-Kucz einschritt und zu ihm sagte: „Es steht Ihnen nicht zu, die anderen Abgeordneten zum Zuhören aufzufordern.“ Najafi solle im Übrigen „keine Parteipolitik betreiben“. Das Wort „Heuchelei“, das der AfD-Mann verwendete, wurde von Janssen-Kucz zwar nicht beanstandet, sie schritt dann aber ein, als er danach noch „Scheinheiligkeit“ erwähnte. „Achten Sie auf Ihre Wortwahl“, erklärte Janssen-Kucz.



Bemerkenswert ist auch ein Vorgang aus dem September-Plenum, das gerade mal einen Monat zurückliegt. Der AfD-Abgeordnete Marcel Queckemeyer sprach in einer Debatte um Windkraftanlagen in Tourismusgebieten von „Heuchelei“ – und er bekam dafür tatsächlich, anders als Najafi im Januar von Janssen-Kucz, einen Ordnungsruf des amtierenden Landtagspräsidenten Marcus Bosse (SPD). Queckemeyer reagierte darauf mit dem leise vor sich hingesprochenen Satz „Ich nehme das hin“ – und erhielt prompt den zweiten Ordnungsruf. Das ist verständlich, weil es sich nicht gehört, eine Rüge des Sitzungsleiters zu kommentieren.

Wenig später dann trat Queckemeyer wieder nach vorn und hielt der CDU in der Debatte vor, sie habe beim Thema Windkraftplanung „den Schwanz eingezogen“. Diese Bemerkung brachte Queckemeyer den dritten Ordnungsruf von Bosse ein – und nach den Regeln muss jemand nach drei Ordnungsrufen in einer Sitzung den Plenarsaal verlassen. Das tat Queckemeyer dann auch, und es war offenbar das erste Mal nach 30 Jahren, dass jemand wegen drei Ordnungsrufen den Plenarsaal verlassen musste. Auch in dieser Situation drängen sich Fragen auf. Ist der Vorwurf, jemand „zieht den Schwanz ein“, nicht ein gebräuchliches Synonym für jemanden, der nicht mehr den Mut hat, zu seiner ursprünglichen Haltung zu stehen? Bosse hatte seinen dritten Ordnungsruf noch mit dem Hinweis versehen: „Wir befinden uns in einem Parlament und nicht am Stammtisch.“ Das ist zutreffend, aber ob die Formulierung des AfD-Politikers tatsächlich einen Ordnungsruf erforderte, darf wohl bezweifelt werden.

„Das ist doch bei Rednern anderer Fraktionen auch üblich, dass man auf das Fehlen des Regierungschefs hinweist.“

Das führt zu einer anderen Szene, die sich auch in der vergangenen Woche abspielte. Der SPD-Abgeordnete Frank Henning hatte sich in der aktuellen Debatte über den Mehrwertsteuersatz der Gastronomie geäußert und eine Zwischenfrage von Thorsten Moriße (AfD) zugelassen. In seiner Antwort auf Moriße sagte Henning zu ihm: „Lieber sogenannter Kollege der AfD…“, woraufhin Landtagsvizepräsidentin Barbara Otte-Kinast (CDU) ihn zurechtwies: „Herr Henning, das ist irritierend. Das ist kein ,sogenannter Kollege‘, sondern ein Kollege, alle hier sind demokratisch gewählt worden.“

Diesen Hinweis kommentierte Henning dann mit den Worten: „Das ist eine Frage der Betrachtung.“ Otte-Kinast reagierte mit dem Wort „genau“, anstatt Henning zurechtzuweisen – denn streng genommen hat auch der SPD-Politiker an dieser Stelle eine Rüge der Landtagsvizepräsidentin kommentiert, ein Schritt, der bei Queckemeyer noch im September mit einem zweiten Ordnungsruf bewertet wurde. Hat Otte-Kinast hier also gegenüber dem SPD-Mann Henning eine Milde gezeigt, die ein AfD-Politiker am Mikrophon vermutlich nicht erfahren hätte?

Im Landtag ist bekannt, dass das Agieren der Landtagspräsidentin und der Landtagsvizepräsidenten in den Parlamentsdebatten schon für Diskussionen sorgt – allerdings nur hinter den Kulissen, öffentliche Kritik wird nicht geübt. Auch die Frage wird nicht vertieft, ob die zuweilen auffällige Strenge gegenüber AfD-Rednern am Ende der AfD und ihrer Erzählung von der „Ausgrenzung bestimmter Positionen und Parteien“ eher nützt als schadet. So ist die AfD auf den Kanälen von Social Media ausgesprochen rege, sie nutzt dafür auch eigene oder ihr politisch nahestehende Kanäle. Wenn die AfD einige prägnante Beispiele wie die oben genannten aufführen kann, erhöht das die Glaubwürdigkeit von Behauptungen, die vermutlich eher fragwürdig sind – dass die AfD-Politiker keine einleitenden Bemerkungen zu Fragen an die Regierung machen dürften, die anderen Parteien schon. Oder dass das Überziehen der Redezeiten bei der AfD geahndet werde, bei den anderen Fraktionen weniger. Oder – wie vergangene Woche – dass der Abgeordnete Alfred Dannenberg von Landtagsvizepräsidentin Sabine Tippelt (SPD) gerügt wird, weil er in seiner Rede zweimal erwähnt hatte, dass der Ministerpräsident bei dieser Sitzung entschuldigt fehlt. „Das ist doch bei Rednern anderer Fraktionen auch üblich, dass man auf das Fehlen des Regierungschefs hinweist. Dort aber erlebe ich es nicht, dass die Landtagspräsidentin eingreift“, sagte Dannenberg anschließend dazu dem Politikjournal Rundblick. Dieser Satz steht erst einmal im Raum, der Beweis indes fehlt.

„Ich weise Sie darauf hin, wir sind hier im hohen Haus und nicht auf dem Oktoberfest.“

Ein Zufall oder eine unzulässige Zuspitzung in der Darstellung der AfD, die sich keinesfalls belegen lässt? Diese Partei kann ihre Opferrolle umso überzeugender vertreten, je mehr zweifelhafte Aktionen des Landtagspräsidiums sie zeigen kann. Alle diese Fälle sind als Video-Dokument festgehalten, manche werden über Youtube von der AfD verbreitet. Eine Rede von Dannenberg beispielsweise, heißt es, hätten sich im Netz schon mehr als anderthalb Millionen Menschen angeschaut. Dort rügte Landtagspräsidentin Naber den AfD-Redner mit den Worten: „Ich weise Sie darauf hin, wir sind hier im hohen Haus und nicht auf dem Oktoberfest.“ Die Szene sei ein Renner in den sozialen Medien, erklärt die AfD.

Dieser Artikel erschien am 19.10.2023 in Ausgabe #181.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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