Seit in Niedersachsen politische Schritte zur Inklusion unternommen werden, ist die Zahl der Förderschüler kaum gesunken: 1974 besuchten 3,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Sonderschule, im Schuljahr 2021/22 waren es immer noch 3,3 Prozent. Das zeigte Professor Rolf Werning, Lehrstuhlinhaber für inklusive Schulentwicklung an der Leibniz-Universität Hannover, bei einem Vortrag in Hannover. Eingeladen hatten der hannoversche Kreisverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und weitere Partner.

Wie Werning zeigte, ist nur an der Förderschule Lernen die Zahl der Schüler deutlich gesunken. An den anderen Förderschul-Typen zusammen - emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, Hören, Sehen, Sprache sowie körperliche und motorische Entwicklung – klettern die Schülerzahlen kontinuierlich nach oben. „Entweder steigt die Zahl der Kinder mit Förderbedarf, oder die Schulen sind nicht mehr in der Lage, damit umzugehen“, folgerte der ausgebildete Sonderpädagoge.
2012 wurde das Gesetz zur inklusiven Schule in Niedersachsen verabschiedet. Seitdem können Eltern entscheiden, ihr Kind mit Förderbedarf auf eine Regelschule zu schicken. Wie Werning zeigte, sind diese Kinder an den Schulformen der Sekundarstufe 1 höchst ungleich verteilt: Im Schuljahr 2020/21 hatten 47 Prozent aller Schüler an Hannovers Oberschulen einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf – gegenüber 14 Prozent an den Realschulen der Landeshauptstadt, 12 Prozent an Gesamtschulen und zwei Prozent an Gymnasien. „Man hat die Förderschule gar nicht aufgegeben: Oberschulen sind maskierte Förderschulen. So maskiert man Exklusion“, sagte Werning dazu.

Aus empirischer Sicht sei es falsch, Kinder mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit anderen schwachen Lernern zu unterrichten. Das Gegenteil sei richtig, meint Werning: „Inklusion bedarf einer gut gestalteten Heterogenität.“ Das bedeutet: Lernschwache Kinder profitierten von guten Schülern in der Lerngruppe. Diese wiederum verbesserten sich im sozialen Lernen. Demokratiebildung funktioniere in inklusiven Gruppen für alle besser. Allerdings seien diese Effekte kein Selbstläufer. Pädagogen seien ständig herausgefordert, für ein Klima zu sorgen, in dem sich lernschwache Kinder nicht ausgegrenzt und abgewertet fühlen. Wichtig dafür sei, die Kinder nicht untereinander zu vergleichen, sondern jeweils ein differenziertes Feedback zu ihren persönlichen Fortschritten zu geben.
„Niedersachsen hat keine politische Vision von inklusiver Bildung.“
„Niedersachsen hat keine politische Vision von inklusiver Bildung“, kritisierte Werning. Seit Jahrzehnten versuche man die Quadratur des Kreises: Inklusion zu erreichen, ohne die Selektion aufzugeben. In anderen Bundesländern sei man weiter, etwa beim Lehramtsstudium: Während für die Lehrämter in Niedersachsen getrennt und an unterschiedlichen Standorten ausgebildet wird, habe Berlin die isolierten Studiengänge für Gymnasien und Sonderschulen abgeschafft. Hier könne man in jedem Lehramt zusätzlich einen Sonderpädagogik-Schwerpunkt wählen.
Zudem forderte Werning, sich von den fünf Schultypen zu verabschieden, die Niedersachsen in der Sekundarstufe 1 zur Auswahl anbietet: „Es muss neben dem Gymnasium eine gleich attraktive Alternative geben.“ Bisher gebe es „Premiumschulen“ und „Restschulen“. Bei der Verteilung von Ressourcen sei Hamburg mit seinem „Sozialindex“ vorbildlich: Damit werden die Herausforderungen ermittelt, vor denen Schulen stehen, und danach die Mittel zugewiesen. „Wir sind eigentlich nicht viel weiter als Bayern“, findet Werning. Dort sei man allerdings ehrlich und stehe zur Förderschule. Zwar gebe es in Niedersachsen einige Schulen – vor allem Grundschulen – mit guten Konzepten zur Inklusion. Dies sei jedoch weit davon entfernt, Standard zu werden.

In der Diskussion berichteten zahlreiche Pädagogen aus ihrer Praxis. Eine Sozialarbeiterin an einem Förderzentrum verteidigte die Arbeit ihrer Einrichtung. Ihrer Meinung nach war es die falsche Stellschraube, die Förderschule Lernen abzuschaffen: „Man hätte mit der Inklusion bei den Gymnasien anfangen müssen.“ Ein Kollege widersprach: „Ich hatte die geilste Förderschule Lernen. Jetzt ist sie geschlossen worden und ich fand das richtig gut.“ Rolf Werning pflichtete ihm bei: „Die Glorifizierung des alten Systems bringt uns nicht weiter. Die Förderschule Lernen ist nicht der beste Ort für Kinder.“