
Nur ein Thema klammerte Bundesverkehrsminister Volker Wissing bei seinem Besuch im hannoverschen Fahrsicherheitszentrum aus: Tempo 130 auf deutschen Autobahnen. Ansonsten gab der FDP-Politiker im Gespräch mit ADAC-Präsident Christian Reinicke und UVN-Hauptgeschäftsführer Volker Müller einen ziemlich umfassenden Kurzüberblick über die Lage der Verkehrsinfrastruktur und den Handlungsbedarf, der sich für ihn daraus ergibt. „Die Infrastruktur ist in einem wirklich schwierigen Zustand“, sagte Wissing nicht nur mit Blick auf die Schiene.
Hier ein Überblick der wichtigsten Themen:
Der Wiedereinstieg in die Kohleverstromung angesichts der aktuellen Energiekrise ist nicht nur für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine Herausforderung. Auch der Bundesverkehrsminister ist darüber besorgt, dass der Transportbedarf von Stein- und Braunkohle im deutschen Güterverkehr weiter steigen wird. Schon 2021, also vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, verzeichnete das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) ein „drastisches und unerwartetes Wachstum“ bei den Kohleeinfuhren. Bislang betraf das vor allem die Binnenschifffahrt, die 34 Prozent mehr Kohle beförderte, und den Seeverkehr (plus 10 Prozent). Für 2022 erwartet das BAG jedoch, dass auch der Kohletransport auf der Schiene nochmal um eine halbe Million Tonnen steigen wird. Das Problem: „Auf der Schiene gibt es keinen Platz für nur einen zusätzlichen Container Kohle“, so Wissing. Er erwartet deswegen, dass viele andere Güter nun nicht mehr per Eisenbahn, sondern per Lastwagen transportiert werden müssen.
Das Schienennetz betrachtet der Bundesverkehrsminister überhaupt als eine seiner größten Baustellen. „Wir hätten mit der deutschen Schieneninfrastruktur anders umgehen müssen und ich werde das rückgängig machen“, kündigte Wissing an. Die Vernachlässigungen der vergangenen Jahre würden nun offensichtlich. „In den letzten Wochen standen 300 Güterzüge still, weil das Netz diese nicht aufnehmen konnte“, berichtete Wissing und versprach: „Deutschland wird ein Hochleistungsnetz bekommen – so wie Österreich.“ Das Nachbarland gilt in vielen Bereichen als vorbildlich, unter anderem bei der Pünktlichkeit und bei der Mobilfunkversorgung. Die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn (DB) nimmt dagegen seit Jahresbeginn beständig ab. In Österreich ist das Schienennetz in Korridore und Verbindungsachsen gegliedert, auf denen alle Beteiligten bei Bauarbeiten eng zusammenarbeiten, um weiterhin einen geregelten Fahrplan zu gewährleisten. Bis Jahresende sollen solche Korridore auch für Deutschland erarbeitet werden.
In einem ähnlich schlechten Zustand wie die Schiene befindet sich auch das Straßennetz. Laut Wissing gibt es gut 4000 marode Autobahnbrücken in Deutschland. „Im Augenblick werden 200 pro Jahr saniert – und das ist schon viel. Ich habe das jetzt nochmal auf 400 erhöht“, sagte der Bundesverkehrsminister. Nachdem die Rahmedetalbrücke bei Lüdenscheid (A 45) wegen Einsturzgefahr gesperrt werden musste, was in der Region seitdem zu einem riesigen Verkehrschaos führt, will Wissing weitere solche Vorfälle dringend verhindern. Dazu will er die „Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und Bau (DEGES)“ in die Autobahn GmbH des Bundes als „selbstständige Einheit“ integrieren und den Faktor „Netzbedeutung“ bei der Priorisierung von Baustellen höher gewichten.
„Wir haben aber einen begrenzenden Faktor: Den Fachkräftemangel“, sagte Wissing. Als Gegengewicht soll die Digitalisierung dienen. „Wir können mit digitaler Planung, die Planungszeiten um 20 Prozent reduzieren – und das ist verdammt viel. Schneller zu sein, bedeutet, die begrenzten Kapazitäten an anderen Stelle wieder nutzen zu können“, sagte der Minister und forderte: „Wir müssen mit diesem analogen Planen aufhören.“

„Ohne Digitalisierung wird die Mobilität schwierig werden, weil man verschiedene Verkehrsträger brauchen wird, um von A nach B zu kommen“, sagte Wissing. Der Bundesminister für Verkehr und Digitales will Menschen, Fortbewegungsmittel und Infrastruktur eng miteinander vernetzen. Bis 2025 soll jeder zweite Haushalt in Deutschland mit 5G versorgt werden, 2030 sollen es 100 Prozent sein. Wissing: „Dann haben wir eines der modernsten Netze der Welt.“ Den Bund sieht er dabei in der Pflicht, die nötigen Mobilitätsdaten zur Verfügung zu stellen. Ansonsten müsse die Datenhoheit aber bei den Fahrzeughaltern oder -nutzern liegen. Die entsprechende Plattform wird nun Schritt für Schritt geschaffen: Bis Ende 2023 sollen alle Verkehrsdaten, die zum Planen und Durchführen einer Reise durch Deutschland nötig sind, in der „Mobilithek“ des Bundesverkehrsministeriums verfügbar sein. Die Cloud-basierte Datenbank soll auch beim Betrieb von autonom fahrenden Fahrzeugen helfen.
„Viele haben gedacht: Elektromobilität ist was für die Stadt und nicht für den ländlichen Raum. Ich mache mir aber Sorgen um die Stadt“, sagte der Verkehrsminister. Wie in einem dichtbesiedelten Stadtteil wie Hannover-Linden die Anwohner ihre E-Autos über Nacht aufladen sollen, kann sich Wissing noch nicht vorstellen. „Eine Ladesäule bietet pro Nacht nur eine Lademöglichkeit“, konstatierte Wissing und schlug vor, die Supermarkt-Parkplätze in den Innenstädten für das nächtliche Laden von E-Autos umzurüsten.

Da die Ladekapazität für die Städte auch ein Standortfaktor sein wird, sieht der FDP-Politiker keine Notwendigkeit für strenge Regeln. „Ich kann Hilfe anbieten, aber ich kann das nicht von oben anordnen. Jede Kommune muss für sich individuell einen Verkehrsplan entwickeln“, sagte Wissing und kündigte an, das „bidirektionale Laden“ noch mehr in den Fokus rücken zu wollen. „15 Millionen elektrische Fahrzeuge bieten ein enormes Zwischenspeicherpotenzial. Wir können uns nicht leisten, das zu ignorieren“, so Wissing. Ein weiteres Ziel des Bundesministers: „Ich hätte gerne, dass wenn jemand selbst Strom produziert, diesen auch kostenlos zum Tanken nutzen kann.“
Bei den Antriebstechnologien sprach sich Wissing klar gegen ein Verbrenner-Verbot aus. „Die Menschen wollen sich nicht auf Dauer bei der Mobilität staatlich bevormunden lassen. Wir müssen die Entwicklung weiter technologieoffen denken und jeden Antrieb nutzen, der uns klimaneutrale Mobilität zusichert“, sagte der Bundesverkehrsminister. Gerade für die deutschen Autobauer sei es wichtig, sich nicht nur auf die E-Mobilität zu konzentrieren.
„Die Resonanz auf das 9-Euro-Ticket hat meine Erwartungen übertroffen“, sagte Wissing und verwies auf die erhöhten Nutzerzahlen im ÖPNV. „Wir haben 21 Millionen Tickets zusätzlich zu den 10 Millionen Abonnenten verkauft“, betont der Minister und zieht daraus folgende Lehre: „Das zeigt, dass man solche disruptiven Prozesse einmal anstoßen muss, um voranzukommen.“ Ihn selbst und viele andere habe am 9-Euro-Ticket insbesondere die einfache Nutzbarkeit überzeugt. „Nicht die Menschen müssen sich den gewachsenen Strukturen anpassen, sondern die Strukturen den Menschen“, lautete die Kampfansage des Bundesverkehrsministers gegen den ÖPNV-Tarifdschungel.
