Muss die niedersächsische Landtagswahl wiederholt werden? Es gibt zwei Gruppen, die vehement diese Ansicht vertreten und dazu demnächst auch vor dem Wahlprüfungsausschuss des Landtags sprechen werden – zum einen die FDP-Politiker Marco Genthe und Alexander Grafe, zum anderen ein Kreis um den ehemaligen AfD-Funktionsträger Friedhelm Pöppe aus Elsfleth (Kreis Wesermarsch).

Der Kernvorwurf der beiden lautet: Bevor die niedersächsische AfD im Juli 2022 in Dötlingen (Kreis Oldenburg) in einer Delegiertenversammlung die Landesliste zur Landtagswahl aufstellte, sei so viel falsch gegangen und auf parteirechtlich fragwürdigen Wegen geschehen, dass diese Landesliste gar nicht hätte zugelassen werden dürfen. Folglich sei die Landtagswahl ungültig, denn die mit elf Prozent gewählte AfD, die derzeit 18 von insgesamt 146 Abgeordneten stellt, sei nicht nur ein kleiner Rand der Volksvertretung, sondern ein erheblicher Teil.
Bisher hat Landeswahlleiterin Ulrike Sachs dagegen gehalten und betont, dass viele satzungsrechtliche Fragen der AfD und parteiinterne Abläufe für die Beurteilung der Frage, ob die Landesliste korrekt aufgestellt worden sei, unerheblich seien. Dem widersprachen Genthe und Grafe vehement – und so steht der Verdacht im Raum, es sei in der parteiinternen Willensbildung der AfD vieles schief gelaufen, dies werde nur vom Innenministerium in Hannover nicht als Wahlrechtsverstoß gewertet – und das sei womöglich höchst fragwürdig. Aber ist das tatsächlich so? Eine Überprüfung der Kernvorwürfe zeigt ein unterschiedliches Bild. Wir wollen im Folgenden den kursierenden Behauptungen auf den Grund gehen.


Tatsächlich ist beim AfD-Landesparteitag am 28. Mai 2022 ein neuer Vorstand gewählt worden, obwohl die Amtszeit des alten noch gar nicht abgelaufen war. Der bisherige Parteichef Jens Kestner war auch nicht formell zurückgetreten. Durfte daher die Neuwahl überhaupt geschehen? Ja, laut AfD-Satzung konnte das geschehen. Denn nach Paragraph 13 der Landessatzung durfte der Landesvorstand einen Sonder-Landesparteitag für die vorgezogene Neuwahl einberufen.
Dies ist dann offensichtlich so auch geschehen. Dieser Sonder-Parteitag wurde eingebettet in den regulären Parteitag, und tatsächlich ist dort dann der neue Vorsitzende Frank Rinck gewählt worden, der in den Wochen danach für die AfD auch handeln durfte.
Tatsächlich sieht die AfD-Landessatzung kein Delegiertensystem vor, insofern war es eine Abweichung von der Norm, dass der Landesvorstand für den 6. Juli zu einer Delegiertenversammlung eingeladen hatte. Allerdings hat der Landesparteitag am 28. Mai eine „Notfalllösung für die Landesliste“ mit großer Mehrheit beschlossen. Darin wurden die Kreisverbände zur unverzüglichen Delegiertenwahl aufgefordert – denn es könne sein, dass die AfD für eine Aufstellungsversammlung keine ausreichend große Halle finde. Die AfD sagt, das Vorgehen sei einwandfrei, denn in Paragraph 11 der Landessatzung heißt es: „Darüber hinaus ist der Landesparteitag befugt, jegliche Entscheidungskompetenz an sich zu ziehen und dem Landesvorstand Weisungen zu erteilen.“

Aber reicht das schon, um plötzlich zum Delegiertensystem überzugehen? Genthe und Grafe sagen nein und verweisen darauf, dass der Antrag zur „Notfalllösung“ zum einen gar nicht extra auf der Tagesordnung des Parteitags am 28. Mai aufgeführt war, viele Mitglieder davon also erst am Tag selbst überrascht wurden. Sie hätten sich gar nicht auf diese Frage vorbereiten können. Eine formelle Satzungsänderung, die ausdrücklich für Aufstellungsversammlungen das Delegiertenprinzip zulässt, wäre aus Sicht der beiden FDP-Politiker eine nötige Voraussetzung gewesen. Zum anderen lege dieser Antrag für den „Notfall“ nur Vorbereitungen für die Delegiertenversammlung fest, sei aber noch keine Entscheidung für diesen Weg gewesen.
Eine ausreichend große Halle, so meinen Genthe und Grafe außerdem, hätte die AfD rechtzeitig zur Listenaufstellung auch noch bekommen können – das sei sogar gerichtlich so bestätigt worden. In diesem Punkt also bestehen tatsächlich Zweifel, ob der AfD-Landesvorstand die eigenen Mitglieder nicht doch mit seiner Einladung zur Delegiertenversammlung am 6. Juli 2022 überrumpelt hatte. Die bisherige Position von Landeswahlleiterin Ulrike Sachs, diese Satzungsfragen seien für die Gültigkeit der Landeslistenaufstellung unerheblich, wird zumindest angezweifelt.
Als erster trat im Juli 2022 der einstige AfD-Abgeordnete Christopher Emden auf und behauptete, der AfD-Politiker Ansgar Schledde habe ein geheimes Konto angelegt und dort Geld von AfD-Mitgliedern kassiert, die einen sicheren Listenplatz haben wollten. Da es um ein privates Konto von Schledde ging und nicht um ein offizielles AfD-Konto, könne man auch nicht argumentieren, die aufgestellten aussichtsreichen AfD-Kandidaten hätten lediglich einen Wahlkampfkostenbeitrag damit leisten sollen. Gegen Schledde wurde daraufhin wegen Untreue ermittelt, die Ermittlungen wurden jedoch von der Staatsanwaltschaft Hannover eingestellt.

Nach Rundblick-Informationen hat der Wahlprüfungsausschuss des Landtags die Akten der Justiz gesichtet. Zwischen Dezember 2020 und Herbst 2022 hat es offenbar Kontobewegungen im Umfang von 125.000 Euro gegeben. Bei denjenigen, die eingezahlt hatten, ist als Verwendungszweck öfter „Kriegskasse“ angegeben, auch mal „Aktionskonto“ oder „K-Kasse“. Womöglich im Vorfeld der Aufstellung der Landesliste am 6. Juli 2022 sollen sechs AfD-Kandidaten, die heute Mitglied der Landtagsfraktion sind, Summen von zusammen rund 16.000 Euro eingezahlt haben – in unterschiedlichen Größenordnungen zwischen 200 bis 5800 Euro. Insgesamt soll es über die beiden Jahre rund 40 Einzahler gegeben haben.

Bei den Ausgaben sollen einige Abbuchungen für private Zwecke betitelt worden sein – so Amazon-Abbuchungen oder Taschengeld. Rund 41.000 Euro sollen mit AfD-Bezug gewesen sein. Manche Abbuchungen gehen in die Richtung der Anmietung von Mini-Bussen, Hotelkosten-Übernahme und ähnliches. Das können nun Ausgaben sein, die dazu dienen, für Parteitage oder Aufstellungsversammlungen die Mitglieder oder Delegierten logistisch zu betreuen und sicherzustellen, dass sie tatsächlich auch den Weg zum Veranstaltungsort antreten.
Spannend ist in diesem Zusammenhang nun die Frage, ob sich aus den Verwendungszwecken der Ausgaben ablesen ließe, dass damit gezielt Delegierte für die Aufstellungsversammlung am 6. Juli in Dötlingen begünstigt worden wären. Sollte das der Fall sein, könnte das den Verdacht einer „Kriegskasse“ erhärten, die dann auch für die Mobilisierung bestimmter Anhänger vor der Aufstellungsversammlung diente. Bisher allerdings fehlen hier konkretere Erkenntnisse.
Sind die Vorwürfe nun so stark, dass der Wahlprüfungsausschuss eine Wiederholung der Landtagswahl empfehlen sollte? Das ist, unterm Strich, höchst unterschiedlich zu bewerten. Dass der AfD-Landesvorstand berechtigt war, die Landesliste bei der Landeswahlleiterin einzureichen, ist wohl unstrittig. Die Vorstandsneuwahl am 28. Mai entsprach den Statuten. Dass die vorbereitenden Beschlüsse für eine Delegiertenversammlung anstelle einer Mitgliederversammlung ausreichend waren, darf bezweifelt werden. Zwar hat es dafür juristisch vertretbare Wege beim Landesparteitag am 28. Mai gegeben – aber die eigentlich nötige Ergänzung oder Klarstellung in der Satzung war unterblieben.
Die Hinweise auf die Konto-Bewegungen rund um die „Kriegskasse“ werfen nun einige Fragen auf: Warum geschah das nicht auf einem offiziellen Konto? Warum wurden von diesem Konto nicht Beiträge zur Wahlkampffinanzierung bestritten, sondern offenbar Transport- und Hotelkosten? Man kann vermuten, dass die Kandidaten Geld gezahlt haben, das später zur Mobilisierung bestimmter Gruppen vor wichtigen Wahlen oder Abstimmungen verwendet wurde. Selbst wenn es dafür Belege gäbe, wäre aber die Schlussfolgerung, AfD-Kandidaten seien vom Landesvorstand unter Druck gesetzt oder Listenplätze seien „verkauft“ worden, wohl kühn und gewagt.
Viel spricht derzeit dafür, dass der Wahlprüfungsausschuss des Landtags am Ende gegen die Ungültigkeit der Landtagswahl entscheiden wird. Denjenigen, die dagegen vorgehen, bliebe dann der Weg vor den Staatsgerichtshof.