Die Ziele der Weltgesundheitsorganisation sind klar definiert: Virushepatitis soll bis 2030 als relevante Bedrohung für die öffentliche Gesundheit eliminiert werden. Dazu soll die Rate der Neuinfektionen um 80 Prozent und die Sterblichkeit in Folge einer Infektion um 65 Prozent gesenkt werden. Doch Experten warnen, dass Deutschland diese Ziele zu verfehlen drohe – wegen der Situation im Justizvollzug. „Wenn wir die ‚Keypopulation‘ nicht erreichen, werden wir die Ziele nicht erreichen. Und in Deutschland liegt es daran, dass sich in der Haft nichts tut“, urteilte Prof. Heino Stöver, Experte für Suchtforschung an der Fachhochschule Frankfurt am Main, kürzlich auf einer Fachtagung des Landesverbands Sexuelle Gesundheit, ehemals Aidshilfe Niedersachsen.

Laut Schätzungen der WHO sind weltweit etwa 71 Millionen Menschen chronisch mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) infiziert. Fast 20 Prozent entwickeln nach 20 Jahren eine Leberzirrhose. | Foto: GettyImages/Dr. Microbe

Niedersachsens Gesundheitsminister Andreas Philippi (SPD), der via Videobotschaft immerhin virtuell an der Tagung mitgewirkt hat, stellte zunächst zwar noch fest, dass die Menschen in Haftanstalten ja eine Zielgruppe seien, die „zumindest gut lokalisiert werden kann.“ Doch offenbar passiere dort noch zu wenig, um eine Ausbreitung von Hepatitis C (HCV) oder HIV und Syphilis zu verhindern. Dass Haftinsassen tatsächlich eine relevante Gruppe bei dieser Thematik sind, verdeutlichen derweil Zahlen des Niedersächsischen Landesgesundheitsamts (NLGA). Dieses hat über zehn Jahre, von 2013 bis 2023, nicht nur Blutproben von Häftlingen untersucht, sondern auch mithilfe anonymisierter Fragebögen die Risikofaktoren zu ermitteln versucht.

Die Ergebnisse wird das NLGA zeitnah im Detail der Landespolitik vorlegen, ein erster Blick auf die Zahlen macht aber schon jetzt deutlich, dass die Hepatitis-C-Prävalenz, also die Infektionsrate, bei Häftlingen um den Faktor 30 höher ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Bei HIV liegt der Faktor bei 9 und bei Syphilis bei 8. „Alle drei Infektionen sind bei Häftlingen ein großes Problem“, sagt Armin Baillot vom NLGA. Als relevante Risikofaktoren hat er aus der Studie herausgearbeitet: Drogenkonsum, Geburtsland in Osteuropa, mehr als zwei vorangegangene Inhaftierungen sowie Tätowierungen.

Armin Baillot vom Landesgesundheitsamt hat Risikofaktoren für Hepatitis unter Häftlingen erforscht. | Foto: Kleinwächter

Für Fabian Feil, Präsident des Landesgesundheitsamts, besteht der erste entscheidende Schritt zur Eindämmung der Infektionen im genauen Hinschauen. Würden die Risikofaktoren klar benannt, könne man bessere Präventionsarbeit leisten, sagte er am Rande der Veranstaltung gegenüber dem Politikjournal Rundblick. Bei der Fachtagung des Landesverbands Sexuelle Gesundheit wurde hingegen deutlich: Gerade, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wird das Thema Sex und Drogenkonsum in Haft weitgehend ausgeblendet. Dabei könnten kleine Maßnahmen schon viel bewirken, wie Prof. Stöver, der auf Gesundheit in Haft spezialisiert ist und dazu auch die Weltgesundheitsorganisation berät, aufzeigte.

„Wenn Kondome und Gleitmittel anonym angeboten werden, werden sie auch genutzt“, bilanzierte er seine internationalen Erfahrungen. Doch in Deutschland finde man keine klaren Regelungen zur Verfügbarkeit von Präservativen in Haftanstalten. Ein wohl noch heikleres Thema dürfte die Bereitstellung von sauberen Spritzen sein, die Häftlinge für ihren Drogenkonsum benutzen können. Die Grundidee dabei lautet: Lieber mit einer sauberen Spritze Drogen konsumieren lassen, als dass eine verunreinigte Spritze zwischen den Häftlingen weitergereicht wird. Hier verhalte sich aber sogar die WHO sehr zurückhaltend, aus Angst davor, Geldgeber zu verschrecken, erklärte Prof. Stöver.

Prof. Heino Stöver, Experte für Suchtforschung, plädiert für anonyme Spritzen- und Kondomausgaben im Justizvollzug. | Foto: Kleinwächter

In Niedersachsen hat es aber zumindest schon mal ein Pilotprojekt zum Spritzentausch gegeben. Von 1996 bis 2002 wurden in den Justizvollzugsanstalten Vechta, Lingen und Groß Hesepe rund 60.000 saubere Spritzen an Häftlinge ausgegeben. Am einen Standort wurden die Spritzen von den Mitarbeitern verteilt, es wurden aber auch fünf Automaten für eine anonyme Ausgabe aufgestellt, schilderte Prof. Stöver, der im Anschluss einen mehr als 1000-Seiten starken Bericht zu den Ergebnissen verfasst hatte. Sein Fazit: „Die Zugänglichkeit ist entscheidend, größere Wirkung entfaltet die anonyme Ausgabe. Bei den Männern gab es schon große Vorbehalte bezügliche der Schweigepflicht.“

Mit Empfehlungen an die Politik ist Baillot vom NLGA noch zurückhaltend. Er stellt aber klar: „Unsere Studie kann insbesondere die Fragestellung von Risikofaktoren für HCV beantworten.“ Offensichtlich sei, dass Drogenkonsum und „Needlesharing“, also das Weiterreichen benutzter Spritzen, das Infektionsrisiko erhöhten. Zudem konstatiert er, dass es bei der Behandlung positiv getesteter Insassen noch gewisse Hürden gebe. So müssten die infizierten Häftlinge mindestens neun weitere Monate in Haft verbleiben, damit seitens der Anstalt eine Therapie angestoßen wird. Bei Kosten von bis zu 35.000 Euro wolle man sichergehen, dass auch die Nachbehandlung noch in Haft durchgeführt werden kann.


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Christin Engelbrecht, Geschäftsführerin des Landesverbands Sexuelle Gesundheit, hält jetzt drei Maßnahmen für geboten: Erstens müsse das Problem wahrgenommen werden, zweitens sollte darüber nachgedacht werden, suchtkranken Insassen eine Substitut-Therapie anzubieten und drittens sollte die Präventionsarbeit im Gefängnis gestärkt werden. Ein positives Beispiel dazu findet man wiederum in Lingen. Dort, wo schon Ende der 90er Jahre experimentiert wurde, hat die Aidshilfe bereits einen Fuß in der Tür. Wie Laura Berger von der Aidshilfe Emsland bei der Fachtagung darstellte, bietet ihr Verein in den Gefängnissen Gruppenangebote sowie anonyme Tests an. Was dort dazu führt, dass sich mehr Insassen testen lassen, scheint andernorts derzeit allerdings noch unvorstellbar.