„Gerichte und Anwälte müssen sich endlich wieder auf Augenhöhe begegnen“
Der Präsident des Landgerichts Hannover, Ralph Guise-Rübe, fordert im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick zu einer umfassenden Justizreform auf. Niedersachsen könne dazu den Anstoß geben.
Rundblick: Herr Guise-Rübe, als Präsident des Landgerichts Hannover sind Sie Chef von 530 Mitarbeitern in Ihrem Landgerichtsbezirk. Wird sich diese Struktur, der Alltag in den Gerichten, so im Großen und Ganzen halten können?
Guise-Rübe: Langfristig nicht. Der elektronische Rechtsverkehr beginnt zwar erst ganz langsam, aber er wird sich immer stärker durchsetzen. Bisher hat die IT immer nur das analoge Arbeiten unterstützt, in Zukunft wird die IT die analoge Arbeit ersetzen, bis hin zu einem virtuellen Prozess. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Präsenzverhalten der Mitarbeiter. Augenblicklich kommen die Richter, Rechtspfleger und Servicekräfte jeden Morgen hier in ihr Büro, weil hier alle Akten sind. Manche fahren täglich weite Wege, denn sie können sich teure Wohnungen in Hannover nicht leisten. In Zukunft steht uns durch die Digitalisierung eine wahre Revolution der Arbeitswelt bevor, auch in der Justiz. Wenn alles digital abgewickelt wird und die Papierakte der Vergangenheit angehört, dann ist das Landgericht als Arbeitsstätte weniger bedeutsam. Die Mitarbeiterin, die ein Urteil schreibt, kann dies dann genauso gut auch von zuhause oder von wo auch immer tun, denn alle nötigen Unterlagen werden in ihrem Computer zuhause ständig aktualisiert verfügbar sein. Das hat bestimmt viele Nachteile, aber auch jede Menge Vorzüge. Wer sein Büro zuhause hat, kann sich die langen Arbeitswege sparen, kann auch freier seine Arbeitszeit einteilen. Er muss nicht morgens am Computer sitzen, wenn die Kinder auf den Schulweg geschickt werden – sondern vielleicht nachmittags und abends. Wenn man das zu Ende denkt, ist das auch ein Beitrag zum Umweltschutz. Der ökologische Fußabdruck der Justiz wird sich verkleinern.
Rundblick: Sie haben im Landgericht Hannover schon die „Vertrauensarbeitszeit“ eingeführt. Wie sind die Erfahrungen?
Guise-Rübe: Sehr gut. Wenn die Mitarbeiter sich nicht mehr ein- und ausstempeln müssen, kommt es weniger auf den Zeitraum an als vielmehr auf die Effektivität der Arbeit. Davon profitieren alle. Die bloße Präsenz im Büro wird künftig immer weniger entscheidend sein, es kommt darauf an, dass die Mitarbeiter die mit ihnen vereinbarten Ziele in bestimmten Zeiten umsetzen. Wie sie das tun, ist weitgehend ihre Sache. Flexiblere Arbeitszeiten haben noch einen Vorteil: Gegenwärtig kehren viele junge Mütter und Väter, die nach ihrer Elternzeit zurück in den Beruf wollen, nur auf eine halbe Stelle zurück – weil die festen Bürozeiten unvereinbar sind. Wenn wir das ändern, besteht die Chance, dass sich viele von ihnen bei der Rückkehr auch eine Dreiviertelstelle zutrauen.
Rundblick: Welche weiteren Änderungen stellen Sie sich für die Justiz in Niedersachsen vor?
Guise-Rübe: Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass in den letzten Jahren zu wenig nachhaltige Reformen angeschoben wurden. Dabei ändert sich die Gesellschaft durch die Globalisierung rasant – und das müssen wir auch innerhalb der Justiz berücksichtigen. In Niedersachsen gibt es derzeit drei Oberlandesgerichte, elf Landgerichte und 80 Amtsgerichte, deren Bestand sich eigentlich nur politisch rechtfertigten lässt. Sachlich muss man an der Vielzahl von Gerichtsstandorten durchaus zweifeln. Diese große Anzahl an Einrichtungen bringt nicht unbeachtliche Verwaltungsaufwände mit sich. Vereinfachungen halte ich hier für dringend geboten, auch um beim Angebot der Rechtspflege weiterhin eine gute Qualität sicherzustellen. In jedem Amtsgericht, auch wenn dort weniger als fünf Richter tätig sind – das betrifft 16 Standorte – muss bisher die ganze Bandbreite der Justiz abgedeckt werden, vom Familien und Betreuungs- über das Jugend- bis zum Zivilrecht. Das heißt, in kleinen Gerichten muss jeder Richter, jeder Rechtspfleger, jede Servicekraft viele Fachgebiete parallel beherrschen. Das bedeutet, dass die Routinen in diesen Fällen natürlich nicht so ausgeprägt sein können wie bei denjenigen Mitarbeitern, die sich auf ein Fachgebiet konzentrieren können. Seit 2002 die Singularzulassung aufgehoben wurde, nämlich die Vorgabe, dass jeder Anwalt nur an einem Land- oder Oberlandesgericht tätig werden darf, hat es in der Anwaltschaft eine zunehmende fachliche Spezialisierung gegeben. Bundesweit sind Fachanwaltsbüros tätig, die gut miteinander vernetzt sind. Dem muss die Justiz durch eine weitere und stärkere Spezialisierung begegnen, etwa in Form von landesweiten Konzentrationen an einem Landgericht, aber auch bei einzelnen Amtsgerichten. Dann könnte beispielsweise ein Amtsgericht in einem Landgerichtsbezirk Familiensachen bearbeiten, während Straf- und Zivilsachen 15 Kilometer weiter bei einem anderen Amtsgericht erledigt werden.
Rundblick: Und die Gerichte sind darauf schon eingestellt?
Guise-Rübe: Flächendeckend sicherlich nicht. Gerichte und Anwälte müssen sich auf Augenhöhe gegenüberstehen – und dafür brauchen wir strukturelle Veränderungen. Bei vielen Gerichten gilt noch, dass in jeder Einheit die ganze Bandbreite - etwa des Zivilrechts - vorgehalten werden muss. In diesem Kontext eröffnet die Digitalisierung bei der Umsetzung der dafür erforderlichen Strukturveränderungen beste Voraussetzungen. Es wäre doch gut möglich, virtuelle Verfahren zu führen, in denen die Beteiligten wie in einer Videokonferenz zugeschaltet werden. In Hannover praktizieren wir dies schon in Zivilsachen. Das heißt: In Einzelfällen befindet sich ein Anwalt in seinem Büro in München und er wird zur mündlichen Verhandlung in einer Zivilsache hinzugeschaltet. Hier haben wir noch einen langen Weg zu beschreiten, denn noch sind zum Beispiel Bild- und Tonaufnahmen von Gerichtsverfahren unzulässig.
Rundblick: Das ist doch aber durchaus sinnvoll, da solche Aufnahmen manipuliert und zu unseriösen Zwecken verbreitet werden könnten, oder?
Guise-Rübe: Es gibt überall Vorteile und Nachteile. Wir dürfen uns deshalb nicht aus Angst vor den möglichen vielen Nachteilen generell gegen sinnvolle Veränderungen sperren.
Rundblick: Wo sehen Sie noch Reformbedarf?
Guise-Rübe: Die öffentliche Verwaltung, einschließlich der Justiz, leidet meiner Meinung nach historisch bedingt an einer zu funktionalen Ausrichtung ihrer Mitarbeiter. Die verschiedenen Sektoren – Haushalt, IT, Personal und Organisation - sollten stärker auf den Gesamtprozess ausgerichtet sein und auch über den Tellerrand ihrer eigenen Zuständigkeit hinausblicken. Zukünftig stärker gefragt ist ein Denken in horizontalen Prozessketten, in dem alle, die in einem Gerichtsverfahren beteiligt sind, arbeitsteilig und kooperativ zusammenarbeiten. In dieser Vorstellung spielen Hierarchien nur eine untergeordnete Rolle, vielmehr steht dann eine rollenbasierte und teamorientierte Haltung der jeweils am Prozess Beteiligten im Mittelpunkt.
Rundblick: Was halten Sie vom neuen Justiz-Staatssekretär Stefan von der Beck?
Guise-Rübe: Das sollen andere beurteilen.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #211.