Der renommierte Klimaforscher und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, Hartmut Graßl, hat am Sonnabend bei einer Versammlung des Naturschutzverbands BUND über den Klimawandel und seine Auswirkungen auf Niedersachsen gesprochen. Im Gespräch mit Rundblick-Redakteurin Isabel Christian erklärt er, warum einige Folgen schon jetzt unumkehrbar sind und weshalb Niedersachsen dringend ein eigenes Klimaschutzgesetz braucht.

Rundblick: Wir erleben zurzeit den wärmsten Frühsommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, aber auch in diesem Jahr haben schon Gewitter mit heftigen Regenfällen ganze Ortschaften überschwemmt. Ist das noch normal?

Graßl: Nein, natürlich nicht. Es zeigt, dass das Klima sich ändert und wärmer wird. Das führt dazu, dass die Winter in Deutschland nasser werden. Im Sommer dagegen fällt zwar die gleiche Menge Regen, aber das Wasser kommt eher bei kräftigen Gewittern vom Himmel als in Form von stetigem Landregen. Deshalb stimmt die Wahrnehmung vieler Menschen auch nicht so ganz, dass die Sommer verregneter und kühler werden. Im Gegenteil, es gibt viel längere trockene Phasen zwischen den Regentagen im Sommer, als vor Jahrzehnten.

In Grönland und der Antarktis schmilzt das Eis, wir bekommen das Wasser – Foto: Jakob Brüning

Rundblick: Also hat der Klimawandel auch etwas Gutes…

Graßl: Das kommt auf die Perspektive an. Auch die nasseren Winter haben für Deutschland Vorteile, denn dadurch werden die Grundwasserreservoire trotz stärkerer Entnahme wieder gefüllt. Allerdings wird Wasser für die norddeutschen Küstenregionen zum Problem werden. Denn der Meeresspiegel steigt unaufhaltsam. Gerade Niedersachsen muss sich darauf einstellen, bis zum Ende des Jahrhunderts entweder Teile seiner küstennahen Gebiete zu verlieren, oder viel Geld in Technik zu investieren, um das Wasser draußen zu halten. Das kann man jetzt schon in einigen Gebieten an der Nordsee sehen. Vor der Mündung der Oste in die Elbe zum Beispiel gibt es Schöpfwerke, die das Wasser aus dem Binnenland durch die Deiche in den Fluss pumpen, denn das Gebiet liegt teilweise unterhalb des Meeresspiegels. Und das Wasser steigt weiter, das ist auch nicht mehr aufzuhalten, selbst wenn es uns jetzt gelänge, die mittlere Erderwärmung unter 2°C zu halten.

Rundblick: Warum lässt sich das nicht aufhalten?

Graßl: Da muss ich etwas weiter ausholen. Vor etwa 20.000 Jahren lag der Meeresspiegel etwa 120 Meter unter dem jetzigen Stand. Damals war Großbritannien keine Insel, man hätte einfach durch die Nordsee gehen können. Seither hat sich die Erdoberfläche aber um etwa fünf Grad erwärmt. Dadurch ist das Eis auf Skandinavien und über Nordamerika geschmolzen und die Landmasse, befreit von einem schweren Gewicht, drückt jetzt nach oben, aber die umliegenden Landesteile wie die deutsche Bucht sinken leicht ab. Jetzt kommt zusätzlich der von uns Menschen verursachte  Klimawandel ins Spiel. Noch vor einigen Jahren waren es vor allem die abschmelzenden Gebirgsgletscher und die Ausdehnung des Meerwassers, die jeweils etwa einen Millimeter pro Jahr zum Gesamtanstieg des Meeresspiegels beigetragen haben. Jetzt schmilzt auch Eis in Grönland und der Antarktis. Seit Jahrzehnten beschleunigt sich der Anstieg. Zurzeit um etwa 3,5 Millimeter pro Jahr. Wenn die Entwicklung so fortschreitet, und danach sieht es aus, wird das Meer Ende dieses Jahrhunderts um einen Zentimeter pro Jahr ansteigen. Und im kommenden Jahrhundert wird das weitergehen. Selbst wenn es uns gelingt, mithilfe der Klimaziele die Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu beschränken. Eine Dämpfung des Meeresspiegelanstiegs wird erst dann eintreten, wenn der Kohlendioxidgehalt in der Luft nicht mehr ansteigt

Die Bürger müssen als „Wadelbeißer“, wie man in meiner Heimat Bayern sagt, auftreten und der Politik beim Klimaschutz Druck machen.

Rundblick: Sie haben schon in den achtziger Jahren vor einer Klimaerwärmung und ihren Folgen gewarnt. Passiert ist damals so gut wie nichts, und selbst jetzt geht es nur schleppend voran. In Niedersachsen zum Beispiel hat die rot-schwarze Landesregierung einen Entwurf für ein Landesklimaschutzgesetz eingebracht, doch es ist deutlich, dass die Koalitionäre an das Thema nicht ihr Herz hängen. Frustriert Sie so ein Verhalten?

Graßl: Nicht wirklich, denn es geht ja, wenn auch schleppend, voran. Der Fortschritt im Sektor erneuerbare Energien für die Stromproduktion ist enorm. Ich bin beeindruckt, dass die Wissenschaftler es in Paris geschafft haben, die Industriestaaten der Welt dazu zu bringen, einen Vertrag zu unterzeichnen, der revolutionäre Veränderungen bewirken soll. Das wäre in den Achtzigern noch nicht denkbar gewesen. Aber die Entwicklungen zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir Wissenschaftler haben die Trends sauber formuliert, die Politiker haben sie erkannt und beginnen nun damit, gegenzusteuern. Das dauert seine Zeit, denn jeder Mensch auf der Welt ist Betroffener, aber auch Verursacher des Klimawandels. Gegenmaßnahmen durchzusetzen, ist deshalb schwierig.

Rundblick: Aber wenn man das hehre Klimaziel von 55 Prozent CO₂-Einsparungen bis 2030 noch erreichen will, dann muss es schneller gehen.

Graßl: Das stimmt. Aber es kommt jetzt darauf an, wer stärker ist – die Lobby oder die Wähler. Die Lobby der fossilen Brennstoffe ist gut organisiert und stark und hat deshalb einen enormen Einfluss. Ihr wird die Politik nur wehtun, wenn die Bürger – und damit die Wähler – es heftig fordern. Wenn die träge Masse der Bürger aber lieber an die Nordsee zum Baden fährt, passiert auch nicht viel. Damit die Politik in der Umsetzung schneller wird, sind jetzt die Bürger gefragt. Sie müssen als „Wadelbeißer“, wie man in meiner Heimat Bayern sagt, auftreten und der Politik Druck machen.

Rundblick: Im niedersächsischen Landtag wird zudem noch die Grundsatzfrage debattiert, ob Niedersachsen überhaupt ein eigenes Klimaschutzgesetz braucht. Immerhin ist der Klimawandel ein Problem von globaler Dimension, zu dessen Lösung das Land nur einen kleinen Beitrag leisten kann.

Graßl: Das sehe ich anders. So klein der Beitrag auch sein mag, es ist ein Beitrag. Und Gesetze sind die Ankerpunkte. Freiwillige Vereinbarungen kann man einfach vom Tisch wischen, wenn sie einem gerade nicht in den Kram passen. Im Umweltbereich aber sind ein schwaches Gesetz und ein unabhängiges Gericht die Zutaten für eine tiefgreifende Veränderung. Starke Gesetze wird man hier ohnehin nicht erreichen, aber eine Vereinbarung, in Gesetzesform gegossen, ermöglicht es Gerichten, den Regierungen auf die Finger zu schauen, ob sie Umweltschutz auch einhalten. Die Debatte um die Dieselautos  gibt es ja auch nur, weil auf der europäischen Ebene ein Gesetz existiert, gegen das die Autos nach Ansicht der Gerichte verstoßen. Wie wichtig gerade im Umweltbereich Gesetze sind, habe ich über die Jahre gelernt.