
Die Bürger müssen als „Wadelbeißer“, wie man in meiner Heimat Bayern sagt, auftreten und der Politik beim Klimaschutz Druck machen.
Rundblick: Sie haben schon in den achtziger Jahren vor einer Klimaerwärmung und ihren Folgen gewarnt. Passiert ist damals so gut wie nichts, und selbst jetzt geht es nur schleppend voran. In Niedersachsen zum Beispiel hat die rot-schwarze Landesregierung einen Entwurf für ein Landesklimaschutzgesetz eingebracht, doch es ist deutlich, dass die Koalitionäre an das Thema nicht ihr Herz hängen. Frustriert Sie so ein Verhalten?
Graßl: Nicht wirklich, denn es geht ja, wenn auch schleppend, voran. Der Fortschritt im Sektor erneuerbare Energien für die Stromproduktion ist enorm. Ich bin beeindruckt, dass die Wissenschaftler es in Paris geschafft haben, die Industriestaaten der Welt dazu zu bringen, einen Vertrag zu unterzeichnen, der revolutionäre Veränderungen bewirken soll. Das wäre in den Achtzigern noch nicht denkbar gewesen. Aber die Entwicklungen zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir Wissenschaftler haben die Trends sauber formuliert, die Politiker haben sie erkannt und beginnen nun damit, gegenzusteuern. Das dauert seine Zeit, denn jeder Mensch auf der Welt ist Betroffener, aber auch Verursacher des Klimawandels. Gegenmaßnahmen durchzusetzen, ist deshalb schwierig.
Rundblick: Aber wenn man das hehre Klimaziel von 55 Prozent CO₂-Einsparungen bis 2030 noch erreichen will, dann muss es schneller gehen.
Graßl: Das stimmt. Aber es kommt jetzt darauf an, wer stärker ist – die Lobby oder die Wähler. Die Lobby der fossilen Brennstoffe ist gut organisiert und stark und hat deshalb einen enormen Einfluss. Ihr wird die Politik nur wehtun, wenn die Bürger – und damit die Wähler – es heftig fordern. Wenn die träge Masse der Bürger aber lieber an die Nordsee zum Baden fährt, passiert auch nicht viel. Damit die Politik in der Umsetzung schneller wird, sind jetzt die Bürger gefragt. Sie müssen als „Wadelbeißer“, wie man in meiner Heimat Bayern sagt, auftreten und der Politik Druck machen.
Rundblick: Im niedersächsischen Landtag wird zudem noch die Grundsatzfrage debattiert, ob Niedersachsen überhaupt ein eigenes Klimaschutzgesetz braucht. Immerhin ist der Klimawandel ein Problem von globaler Dimension, zu dessen Lösung das Land nur einen kleinen Beitrag leisten kann.
Graßl: Das sehe ich anders. So klein der Beitrag auch sein mag, es ist ein Beitrag. Und Gesetze sind die Ankerpunkte. Freiwillige Vereinbarungen kann man einfach vom Tisch wischen, wenn sie einem gerade nicht in den Kram passen. Im Umweltbereich aber sind ein schwaches Gesetz und ein unabhängiges Gericht die Zutaten für eine tiefgreifende Veränderung. Starke Gesetze wird man hier ohnehin nicht erreichen, aber eine Vereinbarung, in Gesetzesform gegossen, ermöglicht es Gerichten, den Regierungen auf die Finger zu schauen, ob sie Umweltschutz auch einhalten. Die Debatte um die Dieselautos gibt es ja auch nur, weil auf der europäischen Ebene ein Gesetz existiert, gegen das die Autos nach Ansicht der Gerichte verstoßen. Wie wichtig gerade im Umweltbereich Gesetze sind, habe ich über die Jahre gelernt.