Nach 19 Jahren im Amt ist Frank Rieger, der Landesvorsitzende des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV) in Niedersachsen, Anfang Juni aus dem Vorstand ausgeschieden. Als Nachfolger wurde der freie Journalist Sascha Priesemann (30) gewählt. Der 63-jährige Rieger blickt im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick auf die lange Amtszeit zurück – und beschreibt aus seiner Sicht die Herausforderungen, vor denen die Medienwelt steht.

Rundblick: Herr Rieger, Sie haben bei der Braunschweiger Zeitung volontiert und sind dann zum NDR gegangen, wo Sie von 1990 bis Ende vergangenen Jahres als Redakteur gearbeitet haben. 19 Jahre lang waren Sie im Ehrenamt auch DJV-Landesvorsitzender. Was waren die großen Weichenstellungen in dieser Zeit?
Rieger: Einschneidend war sicher die Corona-Erfahrung – plötzlich haben wir gemerkt, dass manches eben doch über digitale oder hybride Sitzungen geht und nicht immer alle extra nach Hannover anreisen mussten. Das war sicher so etwas wie ein Befreiungsschlag. Zu den größten politischen Erfolgen zählt sicher das 2005 in Kraft getretene Informationsfreiheitsgesetz des Bundes. Es verpflichtet die Bundesbehörden, amtliche Informationen auf Verlangen von Bürgern ohne weitere Voraussetzungen öffentlich zu machen.
Rundblick: Das ist ein Bundesgesetz – warum war es Ihr Erfolg?
Rieger: In Niedersachsen regierte damals eine CDU/FDP-Koalition. Die CDU war dagegen und hätte das Gesetz wohl gern blockiert. Aber zusammen mit Benno Pöppelmann, dem damaligen Justiziar des DJV auf Bundesebene, habe ich mit Wirtschaftsminister Walter Hirche von der FDP gesprochen, und er war für dieses Gesetz. Hirche hat sich in der Koalition durchgesetzt, das Vorhaben ist dann nicht gescheitert, Niedersachsen hat sich im Bundesrat nicht dagegen gestellt.
Rundblick: Sind nicht die Behörden auch ohne eine solche Vorschrift verpflichtet, über ihre Vorgänge auf Verlangen zu berichten? In Niedersachsen haben wir bisher kein solches Informationsfreiheitsgesetz…
Rieger: Das stimmt formal, es gibt den Anspruch der Presse, Auskünfte von den Behörden zu bekommen. In der Praxis erleben wir aber immer wieder, dass bestimmte Dienststellen sich nicht daran halten, Auskünfte verweigern, gar nicht oder nur zögerlich auf Anfragen antworten. Oft wenden sich Journalisten dann an unsere Justiziarin und bitten sie um Hilfe, was wir dann auch tun. Wenn wir ein Informationsfreiheitsgesetz auch in Niedersachsen hätten, wäre manches vermutlich leichter für die Arbeit der Redaktionen, die mit Landesbehörden oder kommunalen Behörden zu tun haben.

Rundblick: Gibt es weitere Meilensteine in Ihrer Verbandsarbeit?
Rieger: Wir haben dafür gekämpft, dass es den bundeseinheitlichen Presseausweis in Deutschland wieder gibt. Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde diese Regel dauerhaft entfallen, dann hätte es eine Vielfalt an verschiedenen Ausweisen gegeben. So aber konnten wir erreichen, dass klar erkennbar ist, wer als Journalist tätig wird und wer nicht. Außerdem haben wir beim NDR das Stimmrecht für freie Mitarbeiter bei den Personalratswahlen durchsetzen können. Das hatte es lange nicht gegeben, das ZDF, der Deutschlandfunk, Radio Bremen und der Bayerische Rundfunk waren schon viel weiter als der NDR. 80 Prozent unserer Mitglieder durften nicht wählen oder gewählt werden. Nun gibt es das dort auch, und das ist gut, wie die jüngste Personalratswahl zeigt. Der DJV hat fünf von elf Mandaten gewonnen. Ein schöner Abschluss meiner Amtszeit, denn daran haben wir viele Jahre gearbeitet.
Rundblick: Der DJV hat in Niedersachsen 1500 Mitglieder und ist die größte Interessensvertretung für Journalisten im Lande. Sie hören viel von den Kollegen in der Branche. Wie hat sich das Arbeiten verändert?
Rieger: Als ich angefangen hatte, gab es noch nahezu überall den Flächentarifvertrag und das klassische Modell: Ein festangestellter Journalist ging zu den Terminen, recherchierte eine Geschichte und berichtete darüber. Heute ist es oft so, dass die festangestellten Kollegen mit dem Redaktionsmanagement befasst sind, freie Journalisten zu den Terminen geschickt werden. Auch das Vertrauensverhältnis, das entsteht, wenn ein Journalist lange in einem bestimmten Bereich tätig ist, über Kontakte verfügt und mit seinen Berichten gezeigt hat, wie er arbeitet, fehlt heute oft. Das finde ich schade. In der Landespolitik, etwa beim NDR, ist es noch anders – aber das sind wohl die letzten Mohikaner.
Rundblick: Was kann man tun, um diesen Missstand zu beseitigen?
Rieger: Beseitigen kann man ihn kaum, aber vielleicht aufhalten. Vielleicht erkennen die Verleger und der öffentlich-rechtliche Rundfunk irgendwann, dass ein festangestellter Kollege, der selber recherchiert und schreibt, nicht teuer ist, sondern höchst produktiv. Er kann ja Dinge machen, die sich ein freier Kollege dreimal überlegen muss. Wenn die Vergütung für einen Beitrag gleich ist unabhängig von der Frage, ob man einen Tag oder eine Woche dafür recherchiert hat, dann wird sich der freie Journalist fragen: Lohnt sich der Aufwand? Es lohnt sich für ihn dann, wenn er das Thema für wichtig erachtet oder eine Chance sieht, mit einem guten Beitrag Prestige zu erwerben. Im Kern bleibt das Engagement dann aber der Ökonomie geschuldet. Für die Demokratie kann das irgendwann schädlich werden. Das ist spätestens dann der Fall, wenn die Journalisten wegen der Rahmenbedingungen nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen können, Missstände aufzudecken.

Rundblick: Geschieht das vielleicht auch deshalb oft nicht mehr, weil viele Berufskollegen nicht mehr nach Unabhängigkeit und Objektivität streben?
Rieger: Ich halte es mit der Position von Hanns Joachim Friedrichs: Kein Journalist soll sich gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Zur Arbeit gehört die kritische Distanz. Bei jungen Kollegen stelle ich oft eine andere Einstellung fest, das ist dann wohl eine Generationsfrage. Ihnen sind bestimmte Fragen sehr wichtig – die sensible Sprache, die Diversität zum Beispiel. Das finde ich nicht in allen Fällen falsch, in einigen sogar richtig.
Rundblick: Wo denn?
Rieger: Die geschlechtergerechte Sprache zum Beispiel. Sprache sollte nicht große Teile der Bevölkerung ausschließen. Darauf müssen wir mehr achten. Beim DJV benutzen wir den Gender-Stern in der geschriebenen Form. Mündlich verzichte ich auf eine Sprechpause, weil sie für mich künstlich klingt.
Rundblick: Wie denn? Das ist doch eine Verhunzung der deutschen Sprache, eine Debatte nur in bestimmten Kreisen. Befürchten Sie nicht, dass mit einer solchen Position eine abgehobene Sprache produziert wird, die von den Leuten auf der Straße nicht akzeptiert wird?
Rieger: Mich stört der Gender-Stern beim Lesen nicht. Und ich habe beim DJV den Antrag der jüngeren Kolleginnen, dass wir das einführen sollen, unterstützt. In den achtziger Jahren habe ich in den USA gelebt. Damals war das dort schon Thema. Ein „Vorsitzender“ war zunächst der „Chairman“, dann wurde das bei Frauen „Chairwomen“ und schließlich „Chairperson“, woraus die Amerikaner dann „Chair“ gemacht hatten. Nun muss man nur noch aufpassen, dass der Vorsitzende nicht mit dem Stuhl verwechselt wird. Also: Gemessen an den USA haben wir in Deutschland doch sehr lange sehr beschaulich gelebt. Wir als DJV Niedersachsen haben auch als erster Landesverband einen „Vielfaltkongress“ veranstaltet. Das ist meine Überzeugung: Wenn Journalismus relevant sein soll, muss er die Breite des Spektrums in der Bevölkerung abdecken. Da haben wir in Deutschland, was beispielsweise die bekannten Journalisten angeht, noch einen Nachholbedarf. Kollegen mit Migrationshintergrund gibt es nur wenige.

Rundblick: Wo sehen Sie die großen Probleme und Herausforderungen für die Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland?
Rieger: Nach der Hundekot-Attacke des hannoverschen Choreographen Marco Goecke auf eine FAZ-Kritikerin war der DJV Niedersachsen international in den Medien. Sogar in den USA und in Australien wurde über uns berichtet, weil wir den Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt haben. Das Problem ist: Es finden ständig Angriffe auf die Pressefreiheit statt, über die kaum jemand berichtet. Es brauchte die spektakuläre Aktion eines Ballettchefs mit Hundekot, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Wer spricht über Journalisten, die kritisch über Landwirte schreiben und denen Mist vor der Haustür abgeladen wird? Wer spricht über rechtsextreme Beschimpfungen von Kollegen, wer berichtet über Angriffe auf Kamerateams oder Ausgrenzungen von kritischen Lokaljournalisten, die im Rathaus nicht mehr willkommen sind? Journalisten und Journalistinnen sind dann oft an der falschen Stelle zurückhaltend. Ich meine hingegen: Wehret den Anfängen!
Rundblick: Sind die Journalisten oft zu handzahm in Auseinandersetzungen?
Rieger: Manchmal nehme ich wahr, dass nicht mehr kritisch nachgehakt und nachgefragt wird. Dass ein Sachverhalt, der in einer Pressekonferenz vorgetragen wird, nicht mehr ausreichend hinterfragt und kritisch unter die Lupe genommen wird. Vielleicht liegt es daran, dass für ein kurzes Statement eine gründliche Beleuchtung eines Themas gar nicht mehr verlangt wird. Das wäre dann aber sehr schade.