Dieser Dienstag wird ein großer Tag im Leben von Gabriele Andretta, vielleicht die Krönung ihrer Karriere. Als junge Frau ist die heute 56 Jahre alte SPD-Abgeordnete in den frühen achtziger Jahren politisiert worden. Sie kam aus dem Hunsrück in Rheinland-Pfalz, einer ländlichen Gegend, manche würden „Provinz“ sagen. An ihrer Stimme und der Art, wie sie das „ch“ manchmal als „sch“ ausspricht, kann man diese Prägung heute noch erkennen. Ihr Weg führte Andretta in die Uni-Stadt Göttingen, in die Protestbewegung gegen die Nato-Nachrüstung und für die Rechte der Frauen. Es folgten die Arbeit als Abgeordnete des Wahlkreises Göttingen in Hannover, seit nunmehr bald 20 Jahren. Ganz an die Spitze hat sie es im Leineschloss bisher nie gebracht, ein Regierungsamt blieb ihr verwehrt. Heute nun wird die alleinerziehende Mutter zweier mittlerweile erwachsener Kinder für manche Niederlage entschädigt – die SPD-Fraktion hat sie zur neuen Landtagspräsidentin nominiert. Eine breite Mehrheit dürfte Andretta bei der heutigen Wahl sicher sein. Und jeder im Landtag ahnt: Sie wird das neue Amt zu nutzen wissen.

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Was für viele Politiker gilt, trifft für Andretta ganz besonders zu: Ihre Herkunft bestimmt ihren Weg. Da ist die 10.000-Einwohner-Gemeinde Morbach im Hunsrück, in der die 1961 geborene Andretta gemeinsam mit sechs Geschwistern aufwuchs. Ihr Vater, ein Arbeiter, ist katholisch geprägt – und sozialdemokratisch. Als erste in der Familie darf Gabriele studieren, es zieht sich nach Göttingen und zu den Politischen Wissenschaften. Über die Nato-Nachrüstung wird in dieser Zeit heftig gestritten, die sozialliberale Koalition in Bonn zerbricht damals, die „geistig-moralische Wende“ des neuen Kanzlers Helmut Kohl provoziert die Gegner, zu denen auch Andretta gehört. Sie fährt zu den großen Demonstrationen, immer wieder beispielsweise nach Bonn. Und einige Kundgebungen finden auch in ihrer alten Heimat statt, im Hunsrück, wo am Militärstützpunkt Hasselbach Marschflugkörper stationiert werden sollen. Auf einmal schließt sich für Andretta in dieser Zeit ein Kreis, die kleinen Verhältnisse bei ihr zuhause bekommen weltpolitisches Gewicht. War sie anfangs von ihren Kommilitonen in Göttingen wegen ihrer Herkunft belächelt worden, so wurde nun schlagartig diese sonst so verschlafene Gegend zum Brennpunkt der Demonstrationen. „Das war für mich schon ein ganz besonderes Gefühl“, sagt sie heute.

Andretta, die sich früh der Juso-Hochschulgruppe anschloss, lernte damals in Göttingen auch einige Genossen kennen, die sie später immer wieder treffen sollte – Bernd Lange etwa, heute SPD-Europaabgeordneter, oder Heiger Scholz, heute graue Eminenz des Städtetages. Auch Thomas Oppermann zählte dazu, jetzt Bundestagsvizepräsident, und Stephan Weil, der heutige Ministerpräsident. Weggefährten würde man sie nennen, aber dass diese Herren, von denen einige heute noch enge Freundschaften miteinander pflegen, Andretta in ihren inneren Zirkel gelassen hätten, lässt sich wohl nicht sagen.

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Weil, Scholz und Oppermann hatten Jura studiert, Andretta hingegen Politische Wissenschaften. Heute sagt sie, selbst damals schon „eine Linke in der SPD“ gewesen zu sein, was bis heute gelte. Von den männlichen Mitstreitern aus jener Zeit würde sie das nicht behaupten. Der Weg ging weiter: Sie engagierte sich und promovierte  zum Thema „Die konzeptionelle Standortbestimmung von Sozialpolitik als Lebenslagenpolitik“ – also populär ausgedrückt dazu, dass Sozialpolitik mehr sein müsse als „eine Rote-Kreuz-Station hinter den Frontlinien des Kapitalismus“, wie sie heute sagt. Eine Hochschulkarriere schien danach vorgezeichnet, durchaus gefördert von ihrer Mentorin, der Sozialpolitik-Professorin Ingeborg Nahnsen. Andretta ging ins Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut und arbeitete zur Arbeitswelt, wechselte dann zum Lehrstuhl für Soziologie an die Uni, den Aufstieg zur Professorin vor Augen. Doch plötzlich musste im Landtagswahlkampf 1998 die SPD-Direktkandidatin Hulle Hartwig zurückziehen, und Oppermann überzeugte Andretta, kurzfristig einzuspringen. Sie tat es in der Erwartung, womöglich neben der Politik die Wissenschaft weiter pflegen zu können.

„Auseinandersetzung, keine Ausgrenzung“

Es kam etwas anders, Andrettas zweites Kind wurde geboren, im Landtag kümmerte sie sich um Hochschulpolitik – und merkte bald, dass daneben für eine Alleinerziehende kaum noch Freiraum blieb. Ihr Göttinger Parteifreund Oppermann, damals Wissenschaftsminister und Anhänger von Studiengebühren, geriet mit ihr, einer erbitterten Studiengebühr-Gegnerin, wiederholt aneinander. „Der neoliberale Zeitgeist hat eben auch einige von uns erfasst“, lautete ein etwas bissiger Kommentar dazu. Die Auseinandersetzungen waren hart, oft erbittert, oft wirkte auch Andretta dort verhärtet, jahrelang eigentlich. „Ich habe immer gegen die Ökonomisierung von Bildungspolitik gekämpft – vielleicht auch, weil ich selbst die Chance hatte, aus kleinen Verhältnissen kommend den Freiraum der Universität zu erleben“, sagt sie. Nach Oppermann folgte eine Hochschulpolitik in der CDU/FDP-Regierung, Kürzungen provozierten Proteste, Andretta stand ganz vorn. Zweimal, 2008 und 2013, war sie im SPD-Team als mögliche Wissenschaftsministerin vorgesehen. Aber beim ersten Mal verlor die SPD die Wahlen, beim zweiten Mal ging das Ressort am Ende, korrespondierend mit dem sozialdemokratischen Kultusministerium, an die Grünen. Andretta war damals enttäuscht, wie sie offen bekennt, und zu einer besseren Verständigung zwischen ihr und Stephan Weil haben die Vorgänge wohl auch nicht beigetragen.

Aber mit ihrer neuen Rolle als Landtagsvizepräsidentin seit 2013 hat sie sich rasch arrangiert, seit ein paar Jahren wirkt sie gelöster, lockerer und humorvoller – und mit der großen Chance, jetzt Parlamentspräsidentin zu werden, wächst bei Andretta wohl auch der Wunsch, Zeichen zu setzen. Im Umgang mit der AfD dürften die etablierten Parteien „keinen Anlass bieten, ihren Opfermythos zu pflegen“, meint sie und wirbt für „eine Auseinandersetzung, keine Ausgrenzung“. Der neue gläserne Plenarsaal könne ein Auftrag an die dort arbeitenden Abgeordneten sein: „Die Offenheit besteht nicht darin, dass man Fenster in den Plenarsaal baut.“ (kw)