24. Aug. 2021 · 
Inneres

Flüchtlingsrat fordert rasche Einigung über Aufnahme von Afghanen in Niedersachsen

Der niedersächsische Flüchtlingsrat hat an die Politiker in Bund und Land appelliert, der Empörung über die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan rasch Taten folgen zu lassen. „Es ist heuchlerisch, wenn man sich hierzulande einerseits über die Rückständigkeit der Taliban und die Gefahren für viele Afghanen aufregt, andererseits aber meint, jetzt nicht mehr helfen zu können“, sagte Muzaffer Öztürkyilmaz, Sprecher des Flüchtlingsrates, gegenüber dem Politikjournal Rundblick. So könne die Erklärung der Landesregierung und die Mitteilung von Innenminister Boris Pistorius, 450 Plätze für Evakuierte vom Flughafen Kabul bereitzustellen, „nur einer erster Schritt sein“. Was bisher offenkundig noch fehle, sei eine realistische Einschätzung der Lage: „Wir müssen wissen, wie viele Menschen in Afghanistan gefährdet sind, weil sie bisher an exponierter Stelle für eine Modernisierung des Landes eingetreten waren oder höhere Ämter bekleideten. Zweitens müssen wir in Erfahrung bringen, wie viele der Afghanen es bereits in die Nachbarländer geschafft haben und nun hoffen, von dort nach Europa kommen zu können. Im dritten Schritt geht es dann um viele einfache Menschen in Afghanistan, die schlicht Angst vor der Taliban und vor ihren Gewaltaktionen haben.“ Nach Klärung dieser Fragen, betont Öztürkyilmaz, könne man festlegen, wie viele Menschen in Deutschland Schutz finden können.

Die bisherige Politik von Bundes- und Landesregierung wird vom Flüchtlingsrat scharf kritisiert. Die Verantwortung dafür sieht Öztürkyilmaz sowohl beim Auswärtigen Amt, also beim Bundesaußenministerium, als auch beim Bundesinnenministerium. Zum einen sei monatelang behauptet worden, die Lage in den afghanischen Großstädten sei stabil, eine Abschiebung sei deshalb zu rechtfertigen. Dabei habe man die Vernetzung der Taliban unterschätzt – ebenso wie die Tatsache, dass Abgeschobene meistens außerhalb ihres Familienverbandes lebten und deshalb in Afghanistan schnell auffallen. Sie seien nun für die Taliban leicht zu erkennen. Die Basis für solche Entscheidungen über Abschiebungen seien „geschönte Lageberichte des Auswärtigen Amtes“ gewesen. Ein anderer Vorwurf des Flüchtlingsrates lautet, dass die deutschen Behörden bisher keine Chance für erleichtertes Visa-Verfahren eingeräumt hätten. Viele Afghanen müssten Jahre warten, um in den deutschen Botschaften der Nachbarländer, etwa Pakistan, einen Termin zu bekommen. Zusätzliche Kapazitäten für eine wachsende Antragszahl seien bisher nicht geschaffen worden. Das nächste Problem bestehe in den Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das seit 2016 die Anerkennungsquote der Asylbewerber stark heruntergefahren habe – obwohl Afghanistan nach wie vor eines der gefährlichsten Länder der Welt sei. Viele BAMF-Entscheidungen seien dann vor Gericht gekippt worden – aber nur dann, wenn die Betroffenen die Kraft gezeigt hätten, konsequent gegen den ablehnenden Bescheid anzugehen.

Lobend wird vom Flüchtlingsrat das Land Schleswig-Holstein erwähnt, das entschieden hatte, 300 Frauen aus Afghanistan aufzunehmen. „Ein spezifisches Landesaufnahmeprogramm wäre auch in Niedersachsen sinnvoll – es müsste sich in eine bundesweite Strategie einfügen“, sagt Öztürkyilmaz. In einem solchen Fall könne das Land Niedersachsen Ausnahmen von den bisher strengen Visa-Voraussetzungen ermöglichen. Beim Flüchtlingsrat in Hannover haben sich in den vergangenen Tagen mehr als 650 Menschen aus Afghanistan gemeldet, viele per Mail. Darunter seien solche, die Mitarbeiter der Bundeswehr waren, sich in der Zivilgesellschaft engagiert hatten, Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung waren, an Bildungsprogrammen mitgearbeitet, in Banken, für Nachrichtenagenturen oder für den Geheimdienst gearbeitet hatten. Auch Angehörige von „Ärzte ohne Grenzen“ seien dabei gewesen oder Mitarbeiter von Fernsehsendern. Aber auch Bürger, die in den Dörfern bekannt waren und moderne Berufe ausgeübt hatten, fühlen sich nun bedroht und verfolgt.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #145.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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