Nach 100 Tagen ist in der Politik wie in einer Beziehung der Punkt erreicht, an dem die rosarote Brille beschlägt und der Zauber des ersten Dates längst verflogen ist. Man merkt, dass der Partner einige Eigenarten pflegt, die man in den ersten Wochen großzügig übersehen hat: Er schwärmt von günstigerer Energie, vergisst aber zu erwähnen, dass die Stromsteuersenkung nur für ausgewählte Branchen gilt. Er redet vom Bürokratieabbau, verhängt dann aber wieder neue Anforderungen an Cybersicherheit. Und er kündigt eine Rentenreform an, schiebt die heiklen Entscheidungen dann aber an eine Kommission, die noch nicht einmal eingesetzt ist. Genauso klingen die 100-Tage-Bilanzen, mit denen gestern die Verbände die bisherige Arbeit der Bundesregierung bewerteten – vom liebevollen „Er kann ja nichts dafür“ bis zum genervten „So war das nicht abgesprochen“.

Die Bundesregierung wiederum feiert die ersten 100 Tage im Amt, als wäre sie ihr eigener Hochzeitsredner: Sie preist das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen als Liebesbeweis, verkauft sinkende Energiekosten wie einen Strauß Discounter-Rosen und nennt es Bürokratieabbau, wenn alte Formulare nur in eine neue Mappe kommen. Der Wohnungsbau-Turbo glänzt bislang vor allem im Schaufenster. Außenpolitisch gibt man den perfekten Gastgeber, lädt die ganze Nachbarschaft zum Grillen ein und verteilt Häppchen – während zu Hause der Rasen hüfthoch steht, die Küche sich immer noch im Rohbau befindet und im Wohnzimmer noch die Kabel aus der Wand hängen.
Noch ist es früh in der Beziehung. Es bleibt genug Zeit, weniger Eigenlob zu verteilen und mehr sichtbare Ergebnisse zu liefern. Andernfalls steht schon lange vor dem ersten Jahrestag der Beziehungsstatus „Es ist kompliziert“.
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Kommen Sie gut durch den Donnerstag.
Ihr Christian Wilhelm Link