14. Aug. 2025 · 
TagesKolumne

Ende der Verliebtheit

Nach 100 Tagen im Amt sind für die Bundesregierung die Flitterwochen vorbei. Die rosarote Brille rutscht und die Verbände beginnen, die Beziehung kritisch zu hinterfragen.

Nach 100 Tagen ist in der Politik wie in einer Beziehung der Punkt erreicht, an dem die rosarote Brille beschlägt und der Zauber des ersten Dates längst verflogen ist. Man merkt, dass der Partner einige Eigenarten pflegt, die man in den ersten Wochen großzügig übersehen hat: Er schwärmt von günstigerer Energie, vergisst aber zu erwähnen, dass die Stromsteuersenkung nur für ausgewählte Branchen gilt. Er redet vom Bürokratieabbau, verhängt dann aber wieder neue Anforderungen an Cybersicherheit. Und er kündigt eine Rentenreform an, schiebt die heiklen Entscheidungen dann aber an eine Kommission, die noch nicht einmal eingesetzt ist. Genauso klingen die 100-Tage-Bilanzen, mit denen gestern die Verbände die bisherige Arbeit der Bundesregierung bewerteten – vom liebevollen „Er kann ja nichts dafür“ bis zum genervten „So war das nicht abgesprochen“.

100 Tage Bundesregierung in einem Bild: Statt gemeinsamem Kuscheln sind sogar inzwischen getrennte Sofas angesagt. | Foto: GettyImages
  • Die Deutsche Kinderhilfe fühlt sich wie der Partner, dem man die große Liebe versprochen hat, aber zum Jahrestag nur eine Glückwunschkarte mit Finanzierungsvorbehalt überreicht – Kinderrechte fehlen im Koalitionsvertrag, das Bildungsbudget ist zu knapp, eine Strategie gegen Kinderarmut nicht zu erkennen.


  • Das Handwerk hatte schon eine romantische Ferienreise gebucht – und dann erfahren, dass der Partner dafür gar keinen Urlaub eingereicht hat. Keine Stromsteuersenkung für alle, keine glaubwürdige Rentenreform, keine schnelle Entlastung von Bürokratie.


  • Der BUND sieht sich in einer Beziehung, in der von Zukunft geträumt wird, während heimlich ein altes Fotoalbum mit Gaskraftwerken studiert wird – er spricht von klimapolitischem Rückwärtsgang und fossiler Schieflage.


  • Der Mittelstand (BVMW) erinnert sich an den aufregenden Start, stellt nun aber fest, dass der Partner lieber To-do-Listen schreibt, als etwas davon abzuhaken. Es gibt viele Ankündigungen, aber kaum Fortschritte bei zentralen Reformen.


  • Der Einzelhandel (HDE) fühlt sich wie jemand, der einen gemeinsamen Einkaufsbummel geplant hat – und dann alleine vor dem Schaufenster steht, während der Partner zu Hause auf der Couch bei Temu shoppt. Er fordert faire Wettbewerbsbedingungen gegenüber Onlinehändlern aus Fernost sowie Entlastungen bei Steuern und Abgaben.


  • Die Gas- und Wasserstoffwirtschaft hatte sich bereits schick fürs gemeinsame Dinner gemacht, um dann doch zu erfahren, dass der Partner bereits Pizza bestellt hat. Sie vermisst klare Ausschreibungen für Wasserstoffkraftwerke und mehr Tempo bei der Umsetzung der CCS-Gesetzgebung.

Die Bundesregierung wiederum feiert die ersten 100 Tage im Amt, als wäre sie ihr eigener Hochzeitsredner: Sie preist das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen als Liebesbeweis, verkauft sinkende Energiekosten wie einen Strauß Discounter-Rosen und nennt es Bürokratieabbau, wenn alte Formulare nur in eine neue Mappe kommen. Der Wohnungsbau-Turbo glänzt bislang vor allem im Schaufenster. Außenpolitisch gibt man den perfekten Gastgeber, lädt die ganze Nachbarschaft zum Grillen ein und verteilt Häppchen – während zu Hause der Rasen hüfthoch steht, die Küche sich immer noch im Rohbau befindet und im Wohnzimmer noch die Kabel aus der Wand hängen.

Noch ist es früh in der Beziehung. Es bleibt genug Zeit, weniger Eigenlob zu verteilen und mehr sichtbare Ergebnisse zu liefern. Andernfalls steht schon lange vor dem ersten Jahrestag der Beziehungsstatus „Es ist kompliziert“.

  • Mehr Lehrer, aber noch mehr Schüler: Niedersachsen startet erneut mit Rekordzahlen ins neue Schuljahr. Und die Prognose lässt vorerst keine Trendumkehr erwarten.


  • Hannovers OB redet Klartext: Er hält die Klimalage für sehr ernst, will aber eher behutsam darüber kommunizieren. Nur ausnahmsweise könne man "Tacheles reden".


  • Die Kommunalwahlen 2026 werfen ihre Schatten voraus. Viele Landräte und Bürgermeister haben schon verzichtet. Aber wer ihnen folgen will und kann, ist vielfach ungewiss.


  • In der Rubrik Personen und Positionen geht es heute um Anne Deter, die Nord/LB, Mehrdad Payandeh, Stephan Weil und Olaf Lies.

Kommen Sie gut durch den Donnerstag.

Ihr Christian Wilhelm Link

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #138.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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