29. Okt. 2025 · 
HintergrundGeschichte

Eine kleine Geschichte Niedersachsens – mit vielen interessanten Hinweisen eines Kenners

Harz, Heide, Küste und viele Besonderheiten. Das alles macht Niedersachsen aus. Ein bekannter Historiker hat jetzt die Landesgeschichte gerafft aufgeschrieben.

Wenn sich geschichtliche Werke mit der Vergangenheit eines Landes befassen, sind die Prägungen meistens höchst unterschiedlich. Entweder findet man Darstellungen der Frühgeschichte, die von den Neandertalern bis zum Mittelalter reichen und mit vielen Details gespickt sind – oder man findet Werke der Zeitgeschichte, die erst nach der Industrialisierung ansetzen und kurz vor der Gegenwart enden. Das neue Buch des hannoverschen Historikers Carl-Hans Hauptmeyer mit dem schlichten Titel „Geschichte Niedersachsens“ hat nun zwei Besonderheiten. Erstens versucht der Autor – mit einigem Erfolg – die Zeitabschnitte in etwa gleichgewichtig vorzustellen. Das Anfangskapitel beginnt mit der Steinzeit und endet 1180, dann folgen 1180 bis 1450, 1450 bis 1648, 1648 bis 1815, 1815 bis 1918 und schließlich 1918 bis 2024. Natürlich liegt ein etwas stärkeres Gewicht auf der jüngeren Geschichte, das ist nicht nur der Quellenlage geschuldet, sondern auch der Ereignisdichte und der Relevanz für das aktuelle Geschehen. Aber Hauptmeyer spart kein wichtiges Ereignis in den Jahrhunderten davor aus.

Ein Mann mit grauem Bart und Brille hält ein Buch vor der Brust.
Der Autor: Carl-Hans Hauptmeyer. | Foto: Annegret Brinkmann-Thies

Die zweite Besonderheit von Hauptmeyer betrifft den Umfang. Das Abschreckende an geschichtlichen Werken ist sehr oft die Ausführlichkeit der Schilderungen, die sich nicht selten über mehrere „dicke Wälzer“ erstreckt. Nicht so bei Hauptmeyer. Sein schmaler Band zählt einschließlich Personenregister 160 Seiten, aber die Kürze geht nicht auf Kosten der Tiefe. Notwendige Straffungen betreffen die Vorgeschichte, die Zusammenhänge und die Analyse. Aber der Historiker schafft es, in knappen Sätzen und anekdotenhaften Beschreibungen auf das Wesentliche oder Charakteristische einer jeweiligen Epoche einzugehen. Und zwar so, dass einige Beschreibungen unterhaltsam sind und durchaus auf Dauer beim Leser haften bleiben können.

Immerhin hat er, anders als manch andere seiner Profession, ein Gespür für die Bedeutung geschichtlicher Entwicklungen für die Gegenwart. Das merkt man beispielsweise im letzten Kapitel, wenn er die Frage beleuchtet, wie verankert in den früheren dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die NSDAP in Niedersachsen war. Hauptmeyer verweist auf Walther Darré und seinen erfolgreichen Versuch, die Akteure der Landwirtschaft für die Nazi-Bewegung zu gewinnen. In den Reichstagswahlkreisen Ost-Hannover und Süd-Hannover-Braunschweig habe die Partei dann stets überdurchschnittliche Ergebnisse gehabt. Schon 1931 habe Otto Telschow im NS-Gau Ost-Hannover begonnen, die Kräfte stärker auf die Bauern im Kreis Lüneburg als auf die Arbeiterschaft in Harburg-Wilhelmsburg zu richten. Hauptmeyer nennt zwei Akteure, den Klostergutpächter Georg Weidenhöfer aus der Nähe von Zeven und den Landwirt Werner Willikens aus dem Raum Goslar. Die Wahlergebnisse zu Beginn der dreißiger Jahre zeigten dann auch, wie stark konservative Wählerschichten zur NSDAP gewechselt seien. Dort, wo das katholische Milieu (Zentrumspartei) noch intakt war oder auch das sozialdemokratische (SPD), sei die Distanz zur NSDAP größer gewesen.

Schwarz-Weiß-Foto von drei Herren in Anzügen, die sich über ein Buch beugen
Ein Bild aus dem Jahr 1972: Ministerpräsident Alfred Kubel (von rechts), Finanzminister Siegfried Heinke und Kultusminister Peter von Oertzen. | Foto: Deutsche Presse-Agentur

Hauptmeyer versäumt es nicht, die Bedeutung der symbolischen und kulturellen Aktivitäten für den Machterhalt der Nazis zu erwähnen – etwa die Erntedankfeste auf dem Bückeberg bei Hameln, den „Sachsenhain“ bei Verden als Verknüpfung mit dem Germanenkult oder die „Reichsbauerntage“ in Goslar, mit denen die Blut-und-Boden-Ideologie gefestigt und die Nähe zur Landbevölkerung unterstrichen werden sollte. Daneben sei in der Hitlerzeit auch eine gezielte Industrialisierung angegangen worden, etwa in Wolfsburg oder in Salzgitter. Niedersachsen sei durchsetzt gewesen mit einer Vielzahl von KZ-Außenlagern und Arbeitslagern, in denen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene für die Rüstungswirtschaft verpflichtet wurden.

Wo steht nun Niedersachsen in Deutschland? Hauptmeyer spricht einleitend davon, dass diese Gegend, die heute Niedersachsen ist, viel später als Süddeutschland „in das geistige Geflecht Europas integriert“ worden sei. Die wenig erfolgreichen Versuche von Heinrich dem Löwen (1129 bis 1195), die Macht in der Region und dann auch darüber hinaus auszudehnen, mag für diese Schwäche bezeichnend sein. Später war es die Trennung der Welfen in die hannoversche und die braunschweigische Linie, die womöglich hinderlich für eine stärkere Machtposition war. Der Autor erwähnt die „Große Braunschweiger Schicht“, einen Bürgeraufstand von 1374, der sich zwischen den wohlhabenden Patriziern und dem Rat der Stadt entwickelte. In der Hildesheimer Stiftsfehde von 1519 bis 1523 standen sich der Hildesheimer Bischof und die welfischen Fürstentümer Braunschweig-Wolfenbüttel und Calenberg gegenüber. Im Calenberger Land und in Soltau kam es zu Verwüstungen. Der Salzhandel in Lüneburg, der erfolgreiche Bergbau im Harz und das Bierbrauen in Einbeck stehen für wirtschaftliche Erfolge in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. Braunschweig, Lüneburg und Emden waren damals die größten Städte, Hannover musste sich erst noch entwickeln. Hauptmeyer beschreibt, wie der Erfolg der hannoverschen Welfen nach Beginn der Personalunion mit England 1714 die welfischen Vetter in Braunschweig-Wolfenbüttel zunehmend verstimmte und immer mehr Konflikte auslöste. 100 Jahre später, nach dem Ende von Napoleons Herrschaft, wurden geplante Liberalisierungen im Königreich Hannover, in Braunschweig und Oldenburg nur zaghaft umgesetzt, in Hannover vom König sogar aufgehoben – was einen Protest der Göttinger Professoren auslöste. Erst viel später dann habe der König Ernst August eingelenkt, bis dessen Nachfolger Georg V. wieder „ein autokratisches Herrschaftsverständnis hatte“.

Buchcover "Geschichte Niedersachsens"
Bald wird Niedersachsen 80 - das Buch von Carl-Hans Hauptmeyer bereitet darauf vor. | Buchcover: C.H. Beck Verlag

Die regionalen Besonderheiten und Rivalitäten durchziehen Hauptmeyers Buch. Da sind die Oldenburger, die zu Zeiten der Weimarer Republik von einer starken liberalen Partei DDP geprägt waren, die Hannoveraner und Braunschweiger mit ihrem ständigen Zwist und die Braunschweiger einer starken linken Strömung – in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch geprägt durch Otto Grotewohl, dem späteren Ministerpräsidenten der DDR. In jener Zeit schon sind Gedanken an ein „Niedersachsen“ entstanden, wie es dann nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet werden sollte. Der Geograph Kurt Brüning, der zeitweise in Stiefelholz (Wunstorf) lebte und wirkte, hatte schon zwischen 1929 und 1931 eine Denkschrift verfasst, in der Niedersachsen als gemeinsamer Wirtschaftsraum formuliert worden war – sozusagen ein Vorgriff auf eine mögliche Reichsreform, die dann nach der Machtergreifung der Nazis keine Rolle mehr spielte. Damit lag ein Konzept vor, an das dann 1945 bei der Neugründung der deutschen Bundesländer angeknüpft werden konnte.

Die Umstände, die dann zur Gründung Niedersachsens 1946 führten, schildert Hauptmeyer so: In Braunschweig habe es Überlegungen gegeben, sich nach Südosten zu erweitern, in Oldenburg habe man einen Nordwest-Staat erwogen. Beides habe nicht als durchsetzbar erschienen, da auch die Bremer nicht mitmachen wollten. Der SPD-Politiker Hinrich Wilhelm Kopf habe gute Kontakte zur deutsch-hannoverschen Welfenbewegung gepflegt – und die Kräfte für eine Niedersachsen-Gründung zusammengeführt. Auslöser und Beschleuniger der Entwicklung sei aber die britische Militärregierung gewesen, die Zugriffe der Franzosen und der Sowjetunion auf das Ruhrgebiet habe abwehren wollen. Deshalb hätten sich die Briten, die auch Angst vor der Sozialisierung gehabt hätten, mit der Gründung von Nordrhein-Westfalen schon am 23. August 1946 beeilt. Damit sei dann auch klar gewesen, dass Höxter, Lippe-Detmold, Minden und Bielefeld nicht mehr – wie zunächst von Kopf geplant – zu Niedersachsen kommen konnten.

Eine Waldlichtung, umgeben von Steinen
Umstrittene Gedenkstätte: Der von den Nazis geschaffene "Sachsenhain" bei Verden. | Foto: Wallbaum

So war Niedersachsen in den jetzigen Grenzen also ein Zufallsprodukt – noch dazu eines, das anders als andere Länder nicht auf eine jahrhundertealte Landesidentität verweisen konnte? Hauptmeyers Buch legt diesen Eindruck nah und nennt auch viele Defizite und Rückschläge in der geschichtlichen Entwicklung. Es ist dennoch sehr lesenswert und eine kompakte Darstellung all dessen, was Niedersachsen prägt.

Carl-Hans Hauptmeyer: Geschichte Niedersachsens, 160 Seiten, C.H. Beck, ISBN 978-3-406-83054-9.

Dieser Artikel erschien am 30.10.2025 in Ausgabe #192.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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