Rundblick-Redakteurin Audrey-Lynn Struck interviewt Pflegerin Annette Stegner (Name von der Redaktion geändert). | Foto: Link

Piep. Pieep. Pieeep. Pieeeep. Ein Durcheinander von tiefen und hohen Tönen erklingt aus allen Räumen, vermengt mit dem Pumpen der Beatmungsgeräte. Ständig kommen neue Geräte dazu, Hersteller werden getauscht. „Es gibt immer wieder einen neuen Ton, bei dem ich denke: Was ist das denn“, sagt Intensivpflegerin Annette Stegner (Name von der Redaktion geändert). Die Kontrolle der Maschinen steht bei ihr ganz oben auf der Liste, denn die Geräusche zeigen ihr: Hier muss gehandelt werden. „Jeder Piepton ist nur so gut wie die Alarmgrenze, die man sich einstellt“, sagt sie. Der Schichtbeginn auf der Intensivstation ist immer gleich, doch kein Tag ist wie der andere. „Es gibt Tage, da ist Trinken nicht drin. Wenn es blöd kommt, sind es ganze Phasen im Monat.“ Patienten bekommen plötzlich Kreislaufprobleme oder auch Atemnot und müssen notfallmäßig intubiert werden. Wenn Stegner und ihren Kollegen dabei ein Fehler unterläuft oder sie zu lange brauchen, kann das Leben kosten – oder ihren Job. „Man hat bei der Pflege immer das Gefühl, man steht mit einem Bein im Knast“, sagt Stegner. Es ist eine Arbeit an der Belastungsgrenze.

Therapien werden aufwendiger, Patienten schwerer

 Die Zahl der Patienten in den niedersächsischen Krankenhäusern ist in den vergangenen 20 Jahren von rund 1,5 Millionen auf knapp 1,7 Millionen Patienten gestiegen, die Zahl der Betten aber um fast 20 Prozent gesunken. Vor der Jahrtausendwende kümmerte sich Stegner noch um ein bis zwei Patienten pro Schicht. Mittlerweile sei eine Intensivpflegekraft meist für zwei bis drei Patienten zuständig. „Die Therapien werden immer aufwendiger. Die Patienten haben mehr Vorerkrankungen und sind älter und oft viel schwerer geworden. Immer häufiger muss ich bis zu drei Kollegen bitten, mir beim Drehen der Patienten zu helfen, weil sie zu viel wiegen“, sagt Stegner und zeichnet damit ein Bild, das in seiner Symbolik fast für das Gesundheitssystem selbst stehen könnte. Nach so langer Zeit braucht es viel Kraft, ein angeschlagenes System komplett umzudrehen – erst recht mit so wenig Pflegekräften.  Pro Krankenhaus gibt es im Schnitt acht offene Pflegestellen, erklärt die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft (NKG).

„Ich war ein großer Fan der netten, alten Leute.“

Stegner erinnert sich noch gut an die 90er Jahre, als sie in einem großen niedersächsischen Krankenhaus anfing. Damals war das Thema Pflegemangel noch weit entfernt. Die Pflege war für sie nur etwas Vorläufiges. „Meine Eltern waren fein damit und haben gesagt: Hurra, sie hat `ne Ausbildung.“ Doch Stegner blieb. Sie liebte die Vielfältigkeit ihres Berufes und die extreme Nähe zu den Menschen. „Das Spannende ist, dass die Menschen keine Maske bei uns tragen. Im Krankenhaus muss man nichts mehr vorspielen.“ Am Beginn ihrer Arbeit sei sie „ein großer Fan der netten, alten Leute“ gewesen. Sie seien so höflich und dankbar gewesen, erinnert sich die 50-Jährige. Heute zähle nur noch das Individuum und die Frage, wer sich am besten durchkämpft. Der Ton wurde mit der Zeit rauer, die Stationen voller.

„Es nervt mich, dass der Beruf so zerredet wird“

Stegners Arbeitgeber versuchte den Stress auszugleichen und ermöglichte der Pflegerin praktisch jeden ihrer Wünsche: Sie reduzierte Stunden, nahm Sonderurlaub und arbeitet seit vielen Jahren Teilzeit. „Ich glaube, dass ich nur deshalb überhaupt so lange durchgehalten habe. Eine 38,5-Stunden-Woche ist für mich in dem Beruf nicht vorstellbar.“ Dass sie dadurch deutlich weniger verdient, ist ihr egal. Lieber rechnet sie vor jeder Investition einmal durch, ob sich die Anschaffung im Verhältnis zu noch mehr Schichten im Krankenhaus für sie lohnt. „Ich kann mir nicht vorstellen da jeden Tag hinzugehen. Auch wenn ich gerne Krankenschwester bin, jeden Tag kann ich das nicht“, gibt die 50-Jährige zu. Sie ist hin- und hergerissen zwischen der zunehmenden Belastung, die unaufhörlich an ihren Kräften zehrt, und der Liebe zur Pflege. „Es nervt mich, dass der Beruf gerade so zerredet wird. Pflege ist wirklich toll. Es ist nicht so, dass wir rumlaufen und einen Stein auf den Rücken gebunden haben. So bekommt man auch niemanden dazu in die Pflege zu gehen.“

95,6 Prozent der Krankenhäuser können Stellen nicht besetzen

NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke / Foto: Struck

 Dabei ist gerade der Pflegebereich auf Nachwuchs angewiesen. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Fluktuation im Krankenhaus stark zugenommen. „Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist es für 95,6 Prozent der befragten Krankenhäuser aktuell schwierig, Stellen zu besetzen“, berichtet die NKG. Mit der generalistischen Pflegeausbildung, die 2020 eingeführt wurde, soll der Pflegeberuf wieder attraktiver werden. „Die generalistische Ausbildung ermöglicht eine große Bandbreite. Eine hochkomplexe Ausbildung für einen komplexen Beruf“, sagt NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke. „Ich halte nichts davon, dass die Leute alles können müssen“, entgegnet Stegner, „jeder Bereich ist anders“.

 Stegner beobachtet, dass viele Berufseinsteiger sich schon nach wenigen Jahren wieder verabschieden – oft mit dem langersehnten Studienplatz in der Tasche. „Ich vermute, dass die junge Generation schneller begreift, was der Pflegeberuf eben auch bedeuten kann.“ Nachtschichten, Wochenenddienste und jedes Jahr wieder die Entscheidung: Weihnachten oder Neujahr – an einem der Tage muss gearbeitet werden. So ein Beruf ist nicht ganz leicht mit dem Sozialleben zu vereinbaren. „Es erfordert ein riesiges Maß an Verständnis im Familien- und Freundeskreis.“ Wer die Stellung hält, sind vor allem die Älteren. „Wer sich erst einmal darauf eingelassen hat, der bleibt“, sagt Stegner. Bei ihr war es genauso.

„Es ist alles auf Kante genäht. Wie viel Pflege kann ich rausstreichen, sodass es gerade noch läuft.“

Der psychische Druck auf die Pfleger wächst sowie auch die körperliche Belastung , sagt Stegner. „Es ist alles auf Kante genäht. Das System ist nach der Frage angepasst worden: Wie viel Pflege kann ich rausstreichen, sodass es gerade noch läuft.“ Ihre Angst ist groß, bei der Behandlung eines Patienten einen Fehler zu machen. „Ich dokumentiere so viel, um mich selbst zu schützen. Es ist sonst ein echter Blindflug, wenn ich nichts aufschreibe“, sagt Stegner. Zum Schichtbeginn liest sie sich die Dokumentation ihrer Kollegen zum Patienten durch und gibt nach jeder Handlung selbst Daten in den Computer ein, der an jedem Bettende steht. „Ich schreibe wenig Text, ich mache fast keine Pflegenotizen, das ist mir zu aufwendig. Bei mir ist das meistens ein Fakten-Eingehacke.“

 Vor zwei Jahren kam dann Corona. Die Pandemie sorgte für zusätzliche Arbeit auf der Intensivstation, der Personalschlüssel musste deutlich nach oben verschoben werden. Seit Stegner in der Pflege arbeitet, hat sie mit einer Pandemie gerechnet. „Ich habe aber nicht vermutet, dass sich das Geschehen hauptsächlich auf der Intensivstation abspielt, sondern in den Gängen der Notaufnahme“, sagt sie rückblickend. Sie selbst hatte zunächst große Angst, sich selbst anzustecken. „Anfangs habe ich mich geweigert, auf der Covid-Station zu arbeiten“, gibt Stegner zu. Als dann eine Impfung möglich war, war die 50-Jährige erleichtert. Heute habe sie keine Angst mehr vor einer Ansteckung. „Ich habe ein Schulkind zu Hause, das ist für mich die viel größere Eintrittspforte für eine Erkrankung als meine Arbeit im Krankenhaus.“

Covid-Patienten werden hin und her geschoben

Im Laufe des Jahres 2021 wurden die Betten auf anderen Intensivstationen reduziert, um von dort Personal abzuziehen, das nun auf Stegners Station in zwei Bereichen arbeitet: einer mit und der andere ohne Covid-Patienten. Doch die Übergänge sind fließend. „Wenn die Welle lange genug stand, lagen auch auf der Nicht-Covid-Seite fast ausschließlich Covid-Patienten.“ Negativ getestete Patienten werden in den anderen Bereich der Station verlegt, wo sie weiter mit den Folgen ihrer Corona-Erkrankung zu kämpfen haben. Das ist nicht nur logistisch eine Herausforderung für die Pflegekräfte. Die Betten müssen dynamisch angepasst und Bereiche in Hochphasen erweitert werden. „Es ist auch körperlich sehr anstrengend. Wir sind ständig am Umschieben. Da ist es fast leichter wenn alle Betten mit Covid-Patienten belegt sind, die positiv getestet sind, als ständig diese Zwischenphasen.“ Besonders schlimm war es vergangenes Frühjahr und dieses Weihnachten.

„Wir können nicht mehr. Es macht sich eine große Lustlosigkeit und Müdigkeit breit“, sagt Stegner. Der Anblick von sogenannten „Spaziergängern“ auf den Corona-Demonstrationen ist für sie daher nur schwer zu ertragen. Aus ihrer beruflichen Erfahrung kennt sie keine jungen geimpften Menschen, die beatmet werden müssen. „Ich sehe nur die ganzen Pechvögel. Wer so schwer erkrankt und zu uns auf die Intensivstation muss, ist ungeimpft.“ Zeitgleich hat die 50-Jährige auch Verständnis für Impfverweigerer. „Wenn jemand meint, dass ist eine Idee von Bill Gates, dann finde ich das schräg. Wenn aber jemand sagt: Ich habe Angst vor den Folgen einer Impfung, dann verurteile ich das nicht.“

Pflege wird zur Fließbandarbeit

Wie geht es nach Corona im Pflegebereich weiter? Das bleibt für Stegner und ihre Kollegen die große Frage. Ihre Befürchtung: „Wenn die Pandemie vorbei ist, ist auch das Pflegethema vorbei. Und geändert hat sich nichts.“ Das aktuelle Gesundheitssystem ist zu sehr auf die Wirtschaftlichkeit des Krankenhauses ausgelegt, anstatt auf den einzelnen Patienten oder gar Pfleger, sagt sie. Eine ihrer Kolleginnen habe die Pflege erst neulich mit der Fließbandarbeit bei VW verglichen. Das Band werde immer schneller geschaltet, die Autoteile darauf würden größer und schwerer. Dabei fallen Stegner eine ganze Reihe an Verbesserungen für die Pflege ein: Wochenarbeitszeit reduzieren, mehr Urlaubstage, ab 55 Jahren keine Nachtdienste mehr und früher in die Rente.

Ihr persönlich geht es nicht um mehr Geld. Was in erster Linie derzeit im Gesundheitssystem fehlt, ist mehr Personal und damit Entlastung. Und wenn man das nicht schnell genug aufstocken kann, muss man eben erst einmal die Betten reduzieren, sagt Stegner. „Es gibt so viele Pflegewissenschaftler, so viele Leute mit guten Ideen. Warum geht es nicht weiter?“, fragt die 50-Jährige. Für sie steht fest: „Die Politik muss jetzt schnellstmöglich die Ärmel hochkrempeln. Das ganze Gesundheitssystem droht den Bach herunter zu gehen.“