23. Okt. 2025 · 
HintergrundKirche

Ein Schutzraum, aber gerne auch ein bisschen unbequem: Wie politisch darf die Kirche sein?

Im Rundblick-Podcast diskutieren Christian Calderone (CDU) und Michael Lühmann (Grüne) über die Rolle der Kirchen für die Politik. Ein Einblick in eine vielschichtige Debatte.

Sollten sich die Kirchen mit Einlassungen zur Tagespolitik besser zurückhalten? Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), studierte Theologin und ausgebildete Journalistin, hat im April mit dieser Forderung eine öffentliche Debatte losgetreten. „Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer“, sagte sie in einem Zeitungsinterview und stellte später noch einmal klar, wie sie das gemeint haben will: „Ich habe nicht gesagt, dass Kirche sich nicht einmischen soll. Ich habe gesagt, die Kirche hat eine solche Relevanz, die muss über das hinausweisen, was Verkehrsregeln angeht.“ Worüber sollen die Repräsentanten der Kirchen also öffentlich sprechen – und zu welchen Fragen vielleicht lieber schweigen? Darüber haben Christian Calderone (CDU) und Michael Lühmann (Grüne) im Rundblick-Podcast diskutiert. Den beiden Mitgliedern des niedersächsischen Landtags darf eine gewisse Nähe zur Kirche unterstellt werden. Damit sind die Gemeinsamkeiten aber auch schon weitgehend ausgeschöpft. Ihr Herkommen begründet ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, wie politisch Kirche sein sollte.

Für Michael Lühmann (Grüne) muss die Kirche politisch sein – und einen Schutzraum bieten. | Foto: Link

„Bei mir war Kirche tatsächlich immer ein Schutzraum“, berichtet Lühmann, der in der DDR aufgewachsen ist. Statt zu den „Pionieren“ hätten ihn seine Eltern mit fünf Jahren zur „Christenlehre“ geschickt, was zu kritischen Nachfragen in der Schule des sozialistischen Staates geführt habe. Eine große Rolle spielte die Kirche dann auch bei den Montagsdemonstrationen gegen das SED-Regime, die in Leipzig von der Nikolaikirche ausgingen. „Ich habe als Kind nicht alles verstanden, was wir da erlebt haben“, sagt Lühmann im Podcast und beschreibt die Friedensgebete in einer kleinen Gemeinde in Anger-Crottendorf. „Ich kannte den Pfarrer von Ostern, wir haben dort Osterbrot gebacken, und plötzlich erlebte ich einen ganz anderen Pfarrer, der sehr aufgewühlt war, und die Kirche war voll bis auf den letzten Platz. Man merkte, hier passiert irgendwas, was ich nicht begreifen kann.“ Später, in den 1990er-Jahren, sei die Kirche für ihn dann ein Schutzraum gegen die erstarkenden rechten Gruppen in Sachsen gewesen. Heute engagiert sich Lühmann im Kleinen in seiner Kirchengemeinde in Bovenden (Kreis Göttingen) und ist Mitglied der Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche. Lühmann sagt über sich, es seien die Grundprägungen von Demut und Barmherzigkeit, die ihn leiten und die dazu beitragen, dass er sich nicht immer allzu sehr über bestimmte Dinge aufregt.

Calderone wiederum, der Katholik aus West-Niedersachsen, stellt gleich zu Beginn klar: „Glaube ist ja zunächst einmal eine private Angelegenheit. Und ich glaube, das ist die Herausforderung aber auch die Chance des christlichen Glaubens, dass Gott eine persönliche Beziehung zu uns selbst sucht und wir irgendwie dieser persönlichen Beziehung begegnen müssen. Deshalb, meine ich, ist es erstmal etwas ganz Inneres.“ Darüber hinaus habe Kirche eine Botschaft: die Botschaft Jesu Christi, die wiederum zu einem gewissen Bild vom Menschen, von Gesellschaft und, so Calderone, „vielleicht auch von Systemen“ führe. Neben der persönlichen Frage des Glaubens, reiche diese Frage also auch ins Politische hinein. Calderone meint aber, diese Frage dürfe die Politik nicht dominieren. Zu Klöckner sagt Calderone, er finde gut, dass sie eine Diskussion darüber angeregt hat. „Ob man sich jede Formulierung zu eigen machen muss, sei mal dahingestellt. Aber die Kirche hat ja eine ziemlich einzigartige Botschaft.“ Diese Botschaft sei, dass „die Menschen nicht die letzten Dinge bestimmen und die Erde nicht das letzte Ding ist.“ Wegen dieser Dimension steht er politischen Einlassungen der Kirchen kritisch gegenüber: „Ich glaube, dass die Kirche sich schon fragen muss, ob sie, wenn sie sich in zu viele tagespolitische Debatten einmischt, zu einer von vielen NGOs wird, die einen von vielen Beiträgen in der öffentlichen Debatte liefert, und wir damit die Einzigartigkeit der Botschaft verwässern“, sagt Calderone. Lühmann meinte später im Gespräch, er könne die negative Konnotation des Wortes „Nichtregierungsorganisation“ gar nicht verstehen.

Lühmann berichtet wiederum, er habe sich über das Klöckner-Interview zunächst sehr geärgert, vor allem über die Verkürzung und eigenwillige Zuspitzung, die Kirche äußere sich zu Verkehrsregeln. „Ich bin in einer Kirche großgeworden, die extrem politisch war. Meine Kirchen-Sozialisation war eine politische Sozialisation. Das war ein linksliberaler Ersatzraum, den es so in der Gesellschaft nicht gab.“ Für Lühmann ist es eine Frage des richtigen Umgangs mit kirchlichen Debattenbeiträgen. Die Kirche diktiere nicht mehr, wie es zu sein hat, sondern: „Kirche ist Teil der Gesellschaft, sie muss mit den gesellschaftlichen Debatten mitgehen, sich dort mit einbringen und ihre Perspektive auf die Dinge aufzeigen – und wir als Politik und Gesellschaft, glaube ich, halten das aus“, sagt Lühmann. Der Grünen-Politiker wittert derweil Kämpfe um einen Alleinvertretungsanspruch darüber, was als christliche Politik zu verstehen sei. „Die Kritik kommt ja nicht von ungefähr, dass gesagt wird, Kirchentage seien wie Grünen-Parteitage. Und ich würde sagen: Ja, das Evangelium ist auch ein bisschen wie grüne Programmatik. Aber das ist natürlich eine Herausforderung für die CDU, die lange Zeit eine größere Nähe zur Kirche hatte.“ Letztlich warnt Lühmann aber vor einem Kampf um politische Deutungshoheit, der dazu führt, dass sich Politik die Rolle der Kirche politisch aneignet. „Das sollten wir dann umgekehrt auch nicht tun.“

Christian Calderone (CDU) möchte nicht, dass die einzigartige Botschaft der Kirchen verwässert wird. | Foto: Link

„Ich glaube nicht, dass es eine Frage der parteipolitischen Deutungshoheit über kirchliche Aussagen ist“, erwidert Calderone. „Es ist eine Frage von Demut in Politik und in Kirche.“ Calderone meint, die Kirche könne nur dann ein guter Schutzraum sein, wenn sie Andersdenkende nicht mit allzu klaren politischen Botschaften ausschließt. Er argumentiert historisch und beschreibt die Zeit des Kaiserreichs, als es eine protestantische Staatskirche gegeben hat und eine katholische Kirche, die über den Kulturkampf versucht hat, Einfluss in Wissenschaft und Lehre zu bekommen. Später haben die Kirchen die Weltkriege unterstützt und mehrheitlich auch den Nationalsozialismus, führt er weiter aus. „Das waren auch Irrungen und Wirrungen von Kirche und deswegen würde ich sagen, dass beiden Seiten – Politik und Kirche – ein bisschen Demut und Zurücknehmen der eigenen Position guttut, und zu wissen, dass sich sowohl Kirche als auch Politik aus heutiger Sicht auch auf irrigen Pfaden bewegt haben.“ Deshalb, so Calderone, sei es keine parteipolitische Frage, wer die Deutungshoheit über kirchliche Aussagen hat.

Zu welchen Themen aber soll sich die Kirche nun äußern? „Kirche hat sich immer wieder und überall eingemischt und das war auch nicht überall gleichermaßen richtig“, räumt auch Lühmann ein. Betrachte man die Werte-Ebene, gebe es aber enge Übereinstimmungen von Verfassung und Kirche, ganz unabhängig davon, welche Ableitungen daraus gezogen werden: „Wir haben natürlich die Unantastbarkeit der Menschenwürde, und wir haben natürlich die Frage der Schöpfungsbewahrung“, zählt Lühmann exemplarisch auf und kommt dann auch zum Thema Abtreibungen. „Es ist gut, dass Kirche sich da positioniert.“ Die Kirche könne aber nicht erwarten, dass die Politik in jedem Fall zustimmt. „An der Stelle kann die Kirche für uns unbequem sein“, sagt der Grünen-Politiker zur kirchlichen Position zu Abtreibungen, „an der nächsten Stelle für die CDU. Und am besten ist es, wenn die Kirche für alle Menschen ein bisschen unbequem ist. Diese Rolle ist ganz, ganz wichtig.“ Demut sei da ein zentraler Punkt, der angesichts von Debatten in den sozialen Medien gesellschaftlich aktuell unter die Räder gerate.

Calderone wiederum sieht die Verknüpfung von christlicher Lehre und politischen Handlungsfeldern weniger eng. „Nun kann man ja Menschenwürde und Frauenrechte und auch Umweltschutz nicht ausschließlich auf die christliche Lehre beziehen, sondern man kann auch aus anderen, humanistischen Gründen für Menschen-, Frauen- und Kinderrechte, für einen menschlichen Umgang mit Migration und für Arten- und Umweltschutz sein.“ Die Kirche habe aber die Chance, wenn sie über ihre Botschaft, über Jesus Christus und Gott redet, etwas „einzupflanzen in die Menschen, die vielleicht am Ende auch Politik machen – aus christlicher Motivation heraus als Christenmenschen Politik machen.“ Calderone sagt: „Ich glaube, das ist am Ende viel erfolgreicher, als – plakativ gesprochen – zu sagen: Wir sind für Tempo 130 auf deutschen Autobahnen. Ich glaube, das geht zu weit. Und ich glaube, das hilft auch nicht dieser einzigartigen Position von Kirche in unserer Gesellschaft.“

Wird die Kirche von Politik vereinnahmt? Das wäre schlecht für beide Seiten, finden Calderone und Lühmann. | Foto: Link

Im weiteren Podcast-Gespräch geht es außerdem noch um die Vorbehalte gegen eine Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin, den Einfluss von Predigten im Vorfeld von Plenartagungen, politisch gespaltene Landeskirchen und die Frage, ob der Reformationstag als gesetzlicher Feiertag wieder abgeschafft werden soll, weil die Kirchenbänke da häufig so leer seien. Das gesamte Gespräch hören Sie auch hier: Spotify | Apple-Podcast | Deezer | Pocket Casts

Dieser Artikel erschien am 24.10.2025 in Ausgabe #188.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail