In dem seit Jahren andauernden Streit über die Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie hat die Europäische Kommission nun ein neues Kapitel aufgeschlagen. Wie Niedersachsens Agrarministerin Barbara Otte-Kinast (CDU) gestern in einer spontan angesetzten Unterrichtung dem Landtag mitteilte, hat der EU-Umweltkommissar bereits am 24. Juni in einem knappen Brief der Bundesregierung dargelegt, dass die Kommission „erhebliche Bedenken hat, dass die Bundesländer die Düngeverordnung nicht vollständig und korrekt anwenden“ und dass Deutschland daher möglicherweise dem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) und der Nitratrichtlinie nicht nachkomme. Bereits im Juni 2018 hatte der EuGH geurteilt, dass Deutschland bei der Umsetzung Defizite aufweise. Nach diesem Urteil passte Deutschland die Verordnung im vergangenen Jahr an, die Länder haben daraufhin die sogenannten „roten Gebiete“ mit einer zu hohen Nitratkonzentration im Grundwasser ausweisen müssen, in denen anschließend schärfere Maßnahmen zum Gewässerschutz eingesetzt wurden.
Wie das Schreiben des EU-Kommissars nun deutlich macht, gibt es aber offenbar noch immer keinen Konsens zwischen den deutschen und den europäischen Behörden. Agrarministerin Otte-Kinast berichtete gestern im Landtag, es habe am 2. Juli eine Videokonferenz auf Ebene der Staatssekretäre des Bundes und der Länder gegeben. Dabei habe die Bundesregierung den Ball an die Länder zurückgespielt. Die EU-Kommission wirft Deutschland demnach vor, Mängel bei den zur Verfügung stehenden Daten zu haben. Zudem geht die Kommission davon aus, dass 80 Prozent der „roten Brunnen“ (also der Grundwasser-Messstellen, bei denen der Nitrat-Grenzwert überschritten wurde) außerhalb der ausgewiesenen roten Gebiete liegen. Otte-Kinast äußerte die Vermutung, Kommission und Bundesländer betrachteten gar unterschiedliche Messstellennetze oder gänzlich unterschiedliche Zeiträume. Die dritte Kritik der Kommission richtet sich an die Verfahren zur Ausweisung der roten Gebiete. Otte-Kinast legte dar, dass sechs Länder gar keine Eingrenzung vorgenommen und damit das gesamte Landesgebiet als eutrophiert ausgewiesen hätten. Ausdrücklich kritisiert wurden hingegen die Versuche zur Verringerung der roten Gebiete in den Bundesländern Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Saarland und Sachsen. Die Kommission drohe nun damit, das ruhende Verfahren vor dem EuGH wieder aufzunehmen, was schlussendlich hohe Strafzahlungen für die Bundesrepublik bedeuten könnte.
Dass Niedersachsen explizit nicht genannt wird, wertet Otte-Kinast als Ausweis dafür, dass die Landesregierung bei ihrem Verfahren zur Eingrenzung der roten Gebiete maßvoll und nachvollziehbar vorgegangen sei. Niedersachsen habe „mit enormem Einsatz, sehr viel Fachkompetenz und großer Akribie“ die Vorgaben der Düngeverordnung und der dazugehörigen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift umgesetzt, meint die Ministerin. Man sehe daher der kritischen Überprüfung der gewählten Methodik wie auch der Abgrenzung Gebiete selbstbewusst entgegen. Hermann Grupe, FDP-Agrarpolitiker, teilt diese Einschätzung ausdrücklich nicht. Niedersachsen habe die Ausweisung der roten Gebiete „katastrophal gemacht“, meinte er gestern bei der anschließenden Aussprache im Landtag. Als „eine Riesensauerei“ bezeichnete er zudem den Umstand, dass es offenbar noch immer einen Widerspruch in der Bewertung der Kommission und des Umweltbundesamt gebe, die zulasten der Landwirte gehe. Die Grünen-Agrarpolitikerin Miriam Staudte nutzte die Debatte um der Landesministerin vorzuwerfen, die „Überdüngungsproblematik“ grundsätzlich nicht anzugehen. Sie mutmaßte, die EU wäre sicher milder gestimmt, hätte man in der Nutztierstrategie auch Vorschläge zur Reduzierung der Tierbestände erwähnt.
Rückendeckung erfuhr die Ministerin derweil von den agrarpolitischen Sprechern der Regierungskoalition sowie von Umweltminister Olaf Lies (SPD). Karin Logemann (SPD) wies die Kritik des FDP-Politikers Grupe entschieden zurück und betonte, Niedersachsen habe seine Hausaufgaben gemacht. Helmut Dammann-Tamke (CDU) frotzelte, in der Mehrheit der nun kritisierten Bundesländer sei das Agrarressort unter Führung der Grünen. Zudem bemängelte er, dass erst die Versuche mancher Bundesländer, die roten Gebiete auf ein absolutes Minimum zu verringern, die EU-Kommission auf die unterschiedlichen Verfahren aufmerksam gemacht habe. Dammann-Tamke verwies außerdem auf ein Gutachten von Prof. Friedhelm Taube von der Universität Kiel, das der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Auftrag gegeben hatte. Prof. Taube schlug darin unter anderem vor, übergangsweise im gesamten Bundesgebiet 20 Prozent unter Bedarf zu düngen – ein Vorschlag, dem Dammann-Tamke ausdrücklich widersprochen hat. Wie Dammann-Tamke lobte dann auch Umweltminister Lies das dreistufige Verfahren, in dem Niedersachsen die roten Gebiete ausgewählt hat, sowie das nun angestoßene mehrjährige Vorgehen bei der Überprüfung weiterer Messstellen. Die Regierung ist sich sicher, mit ihrem Verfahren auf dem richtigen Weg zu sein und sieht bei der Umsetzung der Nitratrichtlinie also den schwarzen Peter nur bei den anderen Ländern.