3. Nov. 2020 · 
Soziales

„Die Suchthilfe braucht mehr Unterstützung“

Immer neue Formen der Sucht gibt es – und die Beratungsstellen sind gefragter denn je. Nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie wächst die Nachfrage nach guten Ratschlägen und Hilfen. 75 Beratungsstellen gibt es in Niedersachsen, doch das Geld wird knapp. In vielen Bereichen musste beim Personal gekürzt werden, obwohl der Bedarf ansteigt. Evelyn Popp von der Arbeiterwohlfahrt in Oldenburg und Conrad Tönsing von der Caritas in Osnabrück äußern sich im Interview mit Martin Brüning. Rundblick: Wir erleben durch Corona gerade eine schwierige Zeit. Wie wirkt sich das in der Suchtberatung aus? Tönsing: Zum einen steigt die Zahl derjenigen, die zu uns kommen, weiter. Bei uns in der Region Osnabrück gab es schon von 2018 auf 2019 eine Steigerung um gut 150 Fälle auf insgesamt 4915. In diesem Jahr liegen wir schon über 5000 Fällen, und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Es kommen aber nicht nur mehr Menschen zu uns, sie müssen auch anders bedient werden. Durch die Pandemie können wir nicht mehr so arbeiten wie vorher, weil zum Beispiel die Räume nicht groß genug sind oder die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen. Die Arbeitszeit der Mitarbeiter hat erheblich zugenommen.
Es braucht nicht mehr Fachstellen, allerdings muss die Qualität der Fachstellen gesichert werden. Dazu braucht es gut ausgebildete Mitarbeiter, die nach Tarif bezahlt werden müssen.
Popp: Derzeit wird eine Mehrbelastung sichtbar, aber wir stellen den Zuwachs in den Beratungsstellen nicht erst seit der Corona-Pandemie fest. Zu uns kommen auch mehr Menschen, weil die Sucht kein so großes Tabu mehr darstellt, wie es früher einmal der Fall gewesen ist. Man stellt auch fest, dass sich Familien häufiger bei uns melden als früher. Das passiert zum Beispiel, wenn der Partner durch Alkoholkonsum auch noch den Führerschein verliert. Gewalt in der Familie spielt auch eine größere Rolle. Und es kommen auch neue Süchte hinzu, ein Beispiel dafür ist die Mediensucht, die ein neues Phänomen darstellt. Das vermischt sich teilweise auch mit der Glücksspielsucht, in der Menschen teilweise umsteigen auf Online-Spiele und Sportwetten im Internet. Diese Entwicklungen fordern die Beratungsstellen zusätzlich.
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Rundblick: 75 Beratungsstellen gibt es in ganz Niedersachsen. Reicht diese Zahl eigentlich aus oder bräuchte man angesichts der steigenden Zahl an Menschen, die sich an sie wenden, mehr davon? Popp: Historisch wurde in Niedersachsen eine gute flächendeckende Verteilung gewünscht. Das ist mit ein paar kleinen Lücken eigentlich gut gelungen. Es braucht deshalb nicht mehr Fachstellen, allerdings muss die Qualität der Fachstellen gesichert werden. Dazu braucht es gut ausgebildete Mitarbeiter, die nach Tarif bezahlt werden müssen. Wir können die Qualität nicht sichern, wenn wir die Tarifsteigerungen nicht mehr abbilden können und bei den Sachkosten hinterherlaufen. Tönsing: Es hat sich über die Jahrzehnte in der Suchthilfe viel verändert. Beim Aufbau hatten wir in den Stellen damals nur ein oder zwei Mitarbeiter. 1968 wurde dann Alkoholismus als Krankheit anerkannt, in den 70ern kamen gesellschaftliche Umbrüche hinzu, die auch mehr Drogenkonsum beinhalteten. Da gab es zweimal große Schübe für die Suchthilfe, die auch mit viel Qualifizierung bei den Mitarbeitern einhergingen. Die Finanzierung ist aber über die Jahre nicht nachgewachsen. Das Qualitätsmanagement, das es heute gibt, kostet viel Geld, bildet sich aber in der Förderung nicht ab. Rundblick: In Niedersachsen hat sich der Fördertopf in den vergangenen Jahren nicht verändert. Die Regelförderung liegt für die ambulanten Beratungsstellen weiterhin bei 4,64 Millionen im Jahr. Popp: Genau, das Land gibt seit 2014 nicht mehr Geld aus für den Bereich. Dadurch wird die Leistung der Fachstellen sukzessive ausgehöhlt, denn dort gibt es natürlich Mehrkosten, zum Beispiel durch Lohnerhöhungen oder allgemeine Preissteigerungen. Das können die Kommunen, die auch an der Finanzierung beteiligt sind, nicht auffangen, und die Träger können es auch nicht.  Sowohl die Wohlfahrtsverbände als auch die Kirchen können nicht dauerhaft Gelder beisteuern, die sie selbst nicht mehr einnehmen. Wenn es so weitergeht, können wir die Versorgung, so wie das Land Niedersachsen sie immer wollte, nicht mehr leisten.
Wir haben nicht mehr so viele offene Drogenszenen wie es sie früher gab, weil niedrigschwellige Hilfen geschaffen wurden.
Tönsing: Im Durchschnitt kommt etwa 30 Prozent der Finanzierung vom Land, 40 Prozent kommen von den Kommunen und der Rest kommt von Trägern und der Sozialversicherung. Das Land kann sich nicht einfach aus der Verantwortung nehmen. Es müsste eine Pflichtfinanzierung werden und keine Finanzierung nach Kassenlage. Es geht auch darum, dass die Fachkräfte vernünftige Grundlagen haben und zukunftsorientiert arbeiten können. Popp: Man merkt bereits jetzt, dass es durch das fehlende Geld an mehreren Stellen immer wieder Anpassungen in den Fachstellen gibt. Da werden Stellen nicht gleich wieder besetzt, Schwerpunkte werden anders gesetzt. Der Druck wird größer, die Fluktuation bei den Mitarbeitern auch. Und es wird schwieriger, neue Fachkräfte zu finden. Rundblick: Es ist ja kein ganz einfacher Moment, beim Finanzminister anzuklopfen. Befürchten Sie, dass Sie gerade durch die Corona-Krise schlechtere Chancen haben? Popp: Wir sprechen schon länger über das Thema. Schon im Herbst vergangenen Jahres gab es auf Bundesebene einen Notruf der Suchtberatungsstellen, weil es dieses Finanzierungsproblem auch in anderen Bundesländern gibt. Wir haben hier in Niedersachsen bereits im Februar an die Politik appelliert, sich nicht weiter schleichend aus der Finanzierung herauszuziehen, während die Zahl der Aufgaben in den Fachstellen auch noch steigt. Es ist jetzt eine schwierige Zeit, aber wir können es uns gar nicht leisten, Rücksicht auf die Herausforderungen des Landeshaushalts in der Corona-Zeit zu nehmen, zumal es doch gerade jetzt wichtig ist, dass wir den Menschen unsere Hilfe anbieten. Tönsing: Wir waren jetzt auch in der Pandemie für die Menschen da, mit mehr Beratung am Telefon, Videokonferenzen, Online-Beratung und therapeutischen Spaziergängen. Es gab auch keinen Lockdown in den Therapieeinrichtungen der Suchthilfe. Es ist einfach auch unabhängig vom Corona-Virus nötig, die Finanzierung der Suchtberatung aufzustocken. Deshalb fordern wir eine Million Euro mehr im Jahr. Damit wären wir zunächst einmal bei der Summe, die uns angesichts der Kostensteigerungen seit 2014 real fehlt. Kommt die Steigerung nicht, werden wir in mehreren Bereichen Stunden bei den Mitarbeitern kürzen müssen. Das bringt uns vor Probleme, weil die Menschen trotzdem vor der Tür stehen und wir sie trotzdem bedienen müssen und das auch wollen. Rundblick: Kostet es den Staat nicht sogar am Ende mehr, wenn er in der Suchthilfe spart? Tönsing: Ja, Investitionen in Suchthilfe lohnen sich. Nicht nur deshalb, weil am Ende der durch Alkohol verlorene Führerschein oder die Einweisung ins Krankenhaus hohe Kosten für Gemeinwesen und Sozialkassen zur Folge haben, sondern auch, weil es durch die Finanzierung weniger Probleme vor Ort gibt. Wir haben nicht mehr so viele offene Drogenszenen wie es sie früher gab, weil niedrigschwellige Hilfen geschaffen wurden. Abhängige brauchen Motivationsfenster, und diese Angebote muss es eben dort geben, wo diese Menschen hinkommen. Das muss auch angemessen finanziert werden.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #197.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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