Was geschah zwischen Januar und Juli vergangenen Jahres in der Landesaufnahmestelle für Asylbewerber (LAB) in Braunschweig? Ein NDR-Bericht, vor wenigen Tagen ausgestrahlt, legt den Verdacht der Vertuschung nahe. Eine frühere Mitarbeiterin der LAB, Nadja N., hatte sich gemeldet und angegeben, sie sei auf Betrugsvorfälle gestoßen. Dabei habe die Behördenleitung sie nicht etwa unterstützt und gefördert, sondern gebremst und schließlich gekündigt. War die Frau nicht mehr willkommen, weil sie den Missbrauch von Asylleistungen aufdeckte – und weil solche Nachrichten womöglich unter Verschluss gehalten werden sollten?

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Innenminister Boris Pistorius hat Tage nach dem NDR-Bericht über den Fall gebrütet, gestern rief er kurzfristig zu einer Pressekonferenz ein – mit hochkarätiger Begleitung. Der Präsident aller Aufnahmebehörden, Jens Grote, war ebenso erschienen wie Landespolizeipräsident Uwe Binias und der Leiter der Kripo in Braunschweig, Ulf Küch. Mehrere Papiere hatte Pistorius ausarbeiten lassen, und mehrfach betonte der Minister: „Es hat nach heutiger Kenntnis keine Vertuschung gegeben. Es liegt überhaupt nicht im Interesse der Behörden, irgendetwas zu vertuschen.“

Allerdings sind die Abläufe, wie die Schilderung auch von Pistorius ergibt, durchaus sonderbar. Die Mitarbeiterin Nadja N. war zwischen 2015 und Juli 2016 über eine Zeitarbeitsfirma bei der LAB tätig, sie war mit der Auszahlung von Sozialleistungen befasst. In ihrem Umkreis arbeitete eine Kollegin mit der seltenen Gabe eines fotografischen Gedächtnisses. Den beiden Frauen fiel auf, dass sich immer wieder afrikanische Männer bei ihnen vorstellten, die als Herkunft „Sudan“ angaben – und dass es zwischen mehreren verblüffende Ähnlichkeiten gab. Im Februar 2016 gab Nadja N. einen Ordner mit 30 aufgelisteten Fällen an ihren Vorgesetzten, den LAB-Standortleiter. Parallel hatte sie auch die Kriminalpolizei informiert. Diese Hinweise waren damals Gold wert, denn es kamen recht viele Flüchtlinge – und Fingerabdruckscanner oder ähnliche Techniken, mit denen man eindeutige Merkmale hätten festhalten können, waren noch nicht da. Diese Technik kam erst im Herbst 2016.

Nadja N.s Vorgesetzter habe nach diesen Hinweisen im Februar Zweifel gehabt, erklärte LAB-Präsident Grote gestern vor Journalisten. Denn die Fotos seien Schwarz-Weiß-Ausdrucke gewesen, die teilweise undeutlich waren. Man müsse die Sache gründlich prüfen, habe der Vorgesetzte gesagt – und auch die Kripo eingeschaltet. Weitere Schritte allerdings wurden offenbar nicht gegangen, wohl auch wegen Absprachedefiziten zwischen Polizei und LAB. „Jeder wartete auf den anderen“, sagt Grote heute. „Ich hätte mir eine bessere Kommunikation zwischen den Behörden gewünscht“, meint Pistorius. Grote sagt später noch: „Man hat bei der LAB gewartet, denn man wollte doch nicht auf der Basis dieser schlechten Schwarz-Weiß-Ausdrucke jemanden an den Pranger stellen.“

Hat die LAB also doch gebremst? Anhaltspunkt dafür könnte die weitere Entwicklung sein. Während nach den ersten Betrugshinweisen von der LAB-Standortleitung aus nichts veranlasst wurde, keine Nachprüfung, keine Sonderkommission oder Task-Force, ermittelten Nadja N. und ihre Kollegin offenbar auf eigene Faust weiter. Zwischen Februar und Mai stellten sie in acht Aktenordnern weitere Fälle zusammen, mehr als 500. Diese liegen heute der Kripo vor, sie werden nach und nach bearbeitet – und es handelt sich hier fast ausnahmslos und Menschen, die als Herkunftsland „Sudan“ angegeben hatten. In wie vielen Fällen es sich tatsächlich um Betrug handelt, ist noch unklar, die Polizei ermittelt noch. Aber was tat der LAB-Standortleiter, als er davon Ende Mai 2016 erstmals erfuhr? Nadja N. hat dem NDR gesagt, er habe ihr geraten, die Ordner in den Keller zu schaffen – sie würden dann später bearbeitet. Grote bestreitet das in Pistorius‘ Pressekonferenz, so etwas sei nicht geäußert worden, die dienstliche Erklärung des LAB-Standortleiters sei glaubwürdig.

Nach Darstellung des LAB-Standortleiters – die sich Pistorius und LAB-Präsident Grote zu eigen machen –  wurden die Akten zügig der Polizei übergeben. Stimmt das tatsächlich? Braunschweigs Kripo-Ermittlungsstelle, die von Nadja N. schon parallel die Unterlagen erhalten hatte, wollte deshalb Ende Mai Kontakt zur LAB-Spitze aufnehmen, hatte aber Mühe, dort den richtigen Ansprechpartner zu finden. So dauerte es bis Anfang Juni, also eine Woche lang, bis die Polizei auch offiziell die von Nadja N. erstellten Ordner von der LAB erhielt. Wollte die LAB die Daten vielleicht gar nicht weitergeben? „Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund“, sagt Pistorius. Nadja N. aber musste wohl einen anderen Eindruck bekommen haben, denn sie gab später an, bei dem Gespräch mit dem LAB-Standortleiter erfahren zu haben, dass sie umgehend, also wenige Wochen vor Auslaufen ihres Zeitarbeitsvertrages, „freigestellt“ wird. Aus Ärger, weil sie mit ihren Kontakten zur Polizei den Dienstweg verletzt hatte? Oder aus Ärger, weil sie Missstände meldete, die nicht bekannt werden sollten? „Ich halte das Vorgehen für unglücklich und habe wenig Verständnis dafür, wie man mit der Mitarbeiterin verfahren ist“, betonte der Minister gestern. Nadja N. beschwerte sich dann im Dezember offiziell beim Innenministerium über die Vorgänge, damals erfuhr auch Pistorius davon. Öffentlich wurde das alles erst vor einer Woche, durch den NDR.

Sozialbetrug mit der Angabe von Mehrfachidentitäten ist in Niedersachsen durchaus verbreitet – mit mehreren Namen und Personendaten versuchen Menschen, bei verschiedenen Behörden parallel Unterstützung zu kassieren. 2016 hatte es landesweit 2644 Fälle gegeben – 487 davon waren Flüchtlinge, und von denen hatten 245 mitgeteilt, aus dem Sudan zu kommen. Falls sich die Angaben von Nadja N. allesamt als zutreffend erweisen sollten, wird die Zahl der Missbrauchsfälle größer. Die Hinweise der Frau könnten auf einen Schaden für die Sozialkassen von bis zu vier Millionen Euro hindeuten. Hätte man Nadja N. und ihre Kollegin, die mit dem fotografischen Gedächtnis, nicht ausdrücklich für ihr Engagement loben sollen? „Ich werde mir überlegen, ob ich das noch tue“, sagte der Innenminister in der Pressekonferenz. (kw)