Die neue Regierung muss zügig entscheiden, wie der Staat auf die Kinderarmut reagieren soll
1957 wurde mit der „Großen Rentenreform“ ein Generationenvertrag beschlossen, der die Existenz im Alter absichern sollte. Damals gab es noch einen zweiten kühnen Vorschlag: Mit einer „Jugendrente“ könnte man auch die Kosten für die Erziehung der nächsten Generation vergesellschaften – und gleichzeitig die Deutschen motivieren, weiterhin Kinder zu bekommen. Doch Bundeskanzler Konrad Adenauer winkte ab – angeblich mit dem berühmten Satz: „Kinder kriegen die Leute immer.“
Dass er damit daneben lag, ist hinlänglich bekannt. Eines aber hat sich seit der Bonner Republik nicht grundlegend geändert: Ein beträchtlicher Teil der Kinder wächst in relativer Armut auf – und das, obwohl die Erwerbsquote generell und insbesondere bei den Müttern kontinuierlich gestiegen ist. In Niedersachsen ist der Anteil der Minderjährigen, die armutsgefährdet sind, zwischen 2022 und 2023 immerhin leicht zurückgegangen – auf immer noch erschreckende 20,7 Prozent. Armutsgefährdet bedeutet: Die Familie hat weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung, Transferleistungen schon eingerechnet. Bei einer vierköpfigen Familie waren das 2759 Euro oder weniger im Monat. 13,8 Prozent aller Minderjährigen lebten in einem Haushalt, in dem Bürgergeld bezogen wird. Das ist ein minimaler Rückgang um 0,4 Prozentpunkte, wie das Landesamt für Statistik neulich mitteilte. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung liegt die Bürgergeld-Quote bei 8,8 Prozent.
Die Ampel-Regierung war mit ehrgeizigen Plänen für eine Kindergrundsicherung angetreten: Verschiedene Leistungen sollten gebündelt und einfacher zugänglich werden. Die Idee: Der Staat geht auf die Familien zu und gibt ihnen, was ihnen zusteht – ohne komplizierte Anträge. Allerdings hatten sich Grüne und FDP nicht vorab darüber verständigt, was das Ganze kosten darf. Als Bundesfamilienministerin Lisa Paus verkündete, für ihr Prestigeprojekt 5000 neue Behördenmitarbeiter einstellen zu wollen, verspielte sie selbst bei Sympathisanten der Idee den Kredit. Um das Projekt wurde es sehr still. Jetzt ist klar, dass es in dieser Legislaturperiode gescheitert ist. Weiterhin werden Kinder Leistungen nicht bekommen, auf die sie einen Anspruch haben, weil ihre Eltern überfordert damit sind, Anträge zu stellen – oder auch: sich schämen, ihren Stolz nicht überwinden können, eine generelle Skepsis gegenüber Ämtern hegen. Ob es in solchen Situationen hilfreich ist, wenn Behörden ungerufen mit Zuwendungen um die Ecke kommen, hätte man abwarten müssen. Jetzt werden wir es nicht mehr erfahren. Der Paritätische Niedersachsen fordert von der künftigen Bundesregierung schon einmal, das Thema wieder aufzunehmen – allerdings mit einer „echten“ Kindergrundsicherung, die Leistungen nicht nur bündelt, sondern auch Mittel für Bildung und Teilhabe obendrauf legt.
Transferleistungen anders oder besser zu verteilen ändert allerdings nichts an den grundsätzlichen Paradigmen der Familienpolitik. Maximal vierzehn Monate wird das Elterngeld gezahlt. Dahinter steht der politische Anspruch, Eltern nach der Geburt möglichst schnell wieder in Arbeit zu bringen. Doch das Ziel scheitert krachend daran, dass es zu wenig verlässliche Betreuungsplätze gibt. Alleinerziehende Eltern sind bei dem Modell klar im Nachteil, weil sie die Doppelbelastung durch Job und Familie nicht auf vier Schultern verteilen können. Nicht umsonst gehört es zu den größten Risikofaktoren für Kinderarmut, mit einem alleinerziehenden Elternteil aufzuwachsen.
Die Sozialrechtlerin Anne Lenze hat ein alternatives Modell vorgeschlagen, um Familien zu stärken. Eltern, argumentiert sie, leisten schon einen Beitrag zur sozialen Sicherung, indem sie die nächste Generation großziehen. Es wäre nur fair, sie dafür bei den Sozialversicherungsbeiträgen zu entlasten. In diesem Sinn hat das Bundesverfassungsgericht 2001 geurteilt. Doch der Gesetzgeber hat das Urteil nur insofern umgesetzt, als er Kinderlosen einen minimal höheren Beitrag zur Pflegeversicherung abverlangt. Lenze empfiehlt, die Eltern auch bei der Kranken- und Rentenversicherung kräftig zu entlasten – mindestens um das Existenzminimum der Kinder, die sie erziehen. Nicht gelöst ist damit das Problem der fehlenden Kinderbetreuung, damit Eltern überhaupt arbeiten können. Hier könnte eine Verlängerung des Elterngeldbezuges über die 14 Monate hinaus helfen, bis die Lage spürbar verbessert ist. Das Beispiel von 1957 zeigt auf jeden Fall: In einer konservativen Regierung reifen manchmal familienpolitische Ideen, die ihrer Zeit weit voraus sind.
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