Die „Chaos-Tage“ in Hannover liegen nun genau 30 Jahre zurück. Normalerweise liebe ich solche Rückblicke und schreibe gern etwas dazu auf. Sehr gern sogar. Aber als mich die Redaktionskollegen gestern baten, das damalige Geschehen einzuordnen (da ich ja als Ältester der Runde die beste Erinnerung haben müsse), fiel mir das schwer. Warum nur?

Das hat wohl vor allem drei Gründe.
Erstens: Die Schuldzuweisung fällt nicht leicht. In der hannoverschen Nordstadt kam es Anfang August 1995 zu Straßenschlachten zwischen Punks, Angehörigen der linken Szene und der Polizei – auch gewalttätige Auseinandersetzungen mit rechtsradikalen Jugendlichen der Skinhead-Szene traten hinzu. Rund 2000 Teilnehmer, aus allen Teilen der Republik angereist, trafen auf mindestens ebenso viele Polizisten. Die Polizei war nicht gut vorbereitet, so wurde von der aufgebrachten Menge ein Supermarkt gestürmt und ein in der Nähe befindliches Fest musste abgebrochen werden. Rund 800 Personen wurden verletzt, zur Hälfte waren es Polizisten. Es gab Szenen, die der spätere Polizeipräsident Hans-Dieter Klosa mit dem Begriff „bürgerkriegsartig“ beschrieb. Viele Randalierer hatten es offenbar auf diese Auseinandersetzung angelegt, daher scheiterte die Deeskalationsstrategie der Polizei. Man hätte es ahnen können, denn Jahre zuvor schon gab es diese Punker-Treffen in Hannover, die sich gegen die in den 80er Jahren eingerichtete Punker-Datei der Polizei richteten und in denen das Geschehen immer wieder ausuferte. Vom Ausmaß des Jahres 1995 jedoch wurde die Polizei überrascht. In der Folge musste Polizeipräsident Herbert Sander gehen. Die Abläufe wurden später parlamentarisch untersucht. Es wurde nichts unter den Teppich gekehrt.
Zweitens: Die Besserwisser trüben die Rückschau. Wenn nun, 30 Jahre später, einige damalige Beobachter auftreten und tönen, sie hätten wesentlich härtere Schritte gegen die Verantwortlichen erwartet, etwa die Rücktritte von Innenminister Gerhard Glogowski oder Ministerpräsident Gerhard Schröder, dann wirkt das seltsam. Sie tun fast so, als seien die Vorfälle damals gar nicht richtig wahrgenommen oder verniedlicht worden. In Wahrheit aber gab es heftige Debatten und intensive Untersuchungen. Das Ergebnis lautete am Ende etwas nüchtern, dass die Einsatzkräfte von der Masse der Teilnehmer und ihrer Gewaltbereitschaft überrumpelt wurden. Immerhin: Im Folgejahr war das ganz anders, die Überforderung vom August 1995 war kein Dauerzustand, sondern führte zu einer neuen Polizeistrategie. Man hatte aus den Fehlern gelernt. Heute sollte niemand so tun, als sei das damals nicht geschehen.
Drittens: Die Schönredner verherrlichen die Gewalt. Man kann in den journalistischen Rückblenden, die in diesen Tagen erscheinen, tatsächlich Sonderbares lesen. Etwa den Hinweis, Hannover sei damals „Zentrum des Kulturkampfs“ gewesen. Oder eine Einschätzung, die rebellierenden Punker hätten „Idealismus gegen Kapital“ gestellt und ihre Vorbehalte gegen die Gentrifizierung ausdrücken wollen. Von solchen Formulierungen ist es kein weiter Weg bis zu dem Versuch, den rebellierenden Jugendlichen ehrenwerte Motive zu bescheinigen und ihnen einen Heldenstatus zu verleihen. Solche Glorifizierungen sind mindestens ebenso deplatziert wie die nachträglichen Rufe nach „mehr Härte“, die von einigen damaligen Beobachtern stammen. Die Randalierer wollten schlicht provozieren und zerstören, ihnen fehlte jede Achtung vor dem Leben der Polizisten und vor den Werten.
Und was folgt aus alledem? Jahrestage sind wichtig, man sollte die historische Rückschau pflegen – und sich dafür interessieren. Wer es nicht tut, kann leicht hereinfallen auf jene, die die Ereignisse verklären oder verbrämen.
Der Rundblick von heute hat ganz überwiegend hoch aktuelle Themen:
Für heute wünsche ich Ihnen einen entspannten Start in die Wochenmitte,
Klaus Wallbaum