5. Nov. 2023 · 
Inneres

„Die EU ist ein Global Payer, noch kein Global Player": Bernd Lange und David McAllister im Interview

Sie gehören zu den einflussreichsten Politikern im EU-Parlament, verstehen sich gut und stammen beide aus Niedersachsen. Der Burgdorfer Bernd Lange (SPD), Vorsitzender des Internationalen Handelsausschusses der EU, und David McAllister (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und Politiker aus Bad Bederkesa, haben die Redaktion des Politikjournals Rundblick besucht und ihre Einschätzung zur aktuellen Lage abgegeben.

Die EU-Politiker David McAllister (CDU) und Bernd Lange (SPD) bewerten die Rolle Europas in den aktuellen weltpolitischen Konflikten. | Foto: Lada

Rundblick: Man hat den Eindruck, dass hinter den Terrorangriffen der Hamas auf Israel auch andere Mächte stecken, etwa der Iran und Russland. Beunruhigt Sie das?

McAllister: Ja. Die weltpolitische Lage ist seit einigen Jahren unübersichtlicher und gefährlicher geworden. Für Israel ist der 7. Oktober, der Tag des barbarischen Angriffs der Hamas, gleichbedeutend mit dem, was der 11. September 2001 für die USA bedeutet. Der terroristische Angriff der Hamas, unterstützt vom Iran, geschah zu einem Zeitpunkt, als eine historische Verständigung zwischen Israel und einigen arabischen Staaten bevorstand. Der Iran destabilisiert seit Jahren den Libanon, den Jemen, Syrien, Irak und die palästinensischen Gebiete. Er ist ein Waffenlieferant für den gesamten Nahen Osten. Die engen Beziehungen des Iran zu Russland bieten Anlass zur Sorge. Das muss Konsequenzen für die gesamte Politik der Europäischen Union haben.

Lange: Der Überfall der Hamas, die von einigen Staaten unterstützt wurde, mit denen wir in Handelsbeziehungen stehen, zeigt einmal mehr: Die Hoffnung in den achtziger und neunziger Jahren, wir würden mit dem Handel einen Wandel zu mehr Demokratie erreichen, hat sich als Illusion herausgestellt. Wir müssen da etwas verändern, und wir sind ja auch dabei.

Bernd Lange (von rechts) und David McAllister sprechen mit Niklas Kleinwächter und Klaus Wallbaum über den Nahostkonflikt, Europa, den Welthandel und die Türkei. | Foto: Lada

Rundblick: Europa spricht nicht mit einer Stimme. Wird Europa überhaupt noch ausreichend gehört?

McAllister: Einigkeit besteht in allen 27 EU-Staaten in grundsätzlichen und wesentlichen Punkten: Wir erkennen das Existenzrecht Israels ohne Einschränkungen an. Wir bekennen uns zur Zwei-Staaten-Lösung mit Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt. Nach den Terrorangriffen der Hamas gibt es flächendeckende Solidarität mit Israel. Eine einheitliche Linie für unsere konkrete Reaktion auf die aktuellen Entwicklungen in Israel und Gaza zu finden, gestaltet sich hingegen schon um einiges schwieriger. Das hat nicht zuletzt der Europäische Rat am 26. und 27. Oktober gezeigt. Dort sind die Staats- und Regierungschefs erst nach langem Ringen zu einer Einigung gekommen, die die Forderung nach „humanitären Pausen“ formuliert. Dies zeigt einmal mehr den außenpolitischen Reformbedarf der Europäischen Union. Es war richtig, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nur einige Tage nach dem Terrorangriff vor Ort in Israel waren. Damit haben beide die europäische Solidarität mit Israel mit Leben erfüllt.

Lange: Ja, sie hätte dort aber zusätzlich noch stärker auf die humanitäre Situation der Menschen in den palästinensischen Gebieten hinweisen sollen…

McAllister: Die EU ist der mit Abstand größte internationale Unterstützer der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die Kommissionspräsidentin hat nach ihrem Besuch angekündigt, unsere humanitäre Hilfe allein für Gaza um 50 Millionen auf insgesamt 75 Millionen Euro zu verdreifachen...

Rundblick: Meinen Sie, die aktuellen Krisen stärken die EU vielleicht sogar?

Lange: Man hört jedenfalls nichts mehr davon, dass irgendein Land die EU verlassen will. Das ist vorbei. Jeder weiß ja auch, dass nur die EU gegen einen Weltkonzern wie Google eine Strafzahlung von 360 Millionen Euro verhängen kann. Ein einzelner Staat in der EU bringt die Kraft dazu nicht auf.

Bernd Lange | Foto: Lada

McAllister: Handelspolitisch ist die EU eine Weltmacht, wirtschaftlich auch. Wir haben den größten Binnenmarkt weltweit. Bei der Regulatorik sind wir auch weit vorn. Was die EU an Regeln entwickelt, etwa im Umgang mit der Digitalisierung und in der Anwendung von Künstlicher Intelligenz, kann zum internationalen Maßstab werden. In der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik indes sind wir keine Weltmacht. Die EU ist ein „Global Payer", aber kein „Global Player". Es wird die Aufgabe der europäischen Institutionen in der nächsten Wahlperiode sein, hier mehr zu erreichen. So sollte Schritt für Schritt das Prinzip der Einstimmigkeit, das momentan in der Außenpolitik gilt, zugunsten qualifizierter Mehrheitsentscheidungen reformiert werden. Wir brauchen konkrete Schritte zu einer Europäischen Verteidigungsunion – über gemeinsame Forschung, Erprobung und Beschaffung von Verteidigungsgütern. Das sollte jedoch nie im Wettbewerb mit der Nato geschehen, sondern zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato. 

Rundblick: In der Handelspolitik läuft alles schon gut?

Lange: Mir hat der Außenminister von Pakistan mal gesagt, dass es ja schön und gut ist, wenn die EU Zollvergünstigungen für Textilien anbietet. Aber die Chinesen würden im Wettbewerb gleich einen Hafen bauen und eine Milliardeninvestition anschließen. Dann sei doch klar, wie er sich entscheiden müsse. Das Beispiel zeigt, dass andere Mächte sehr viel selbstbewusster ihre eigenen Interessen mit der Außenpolitik verbinden. Für die EU heißt das, dass wir Subventionen überprüfen müssen und einschreiten müssen, wenn ausländische Investoren bei uns ihren Einsatz an untragbare Bedingungen knüpfen wollen. Dann muss es Strafzölle oder die Nicht-Anerkennung von Patenten geben.

McAllister: Es gilt, aus den Erfahrungen mit Russland zu lernen. Zu starke Abhängigkeiten von wenigen Lieferanten müssen beendet werden. Wir brauchen weitere Handelsabkommen. Die abgeschlossenen Verhandlungen mit Chile und Neuseeland sind ein guter Anfang. Der jüngste Zusammenbruch der Gespräche mit Australien über ein Freihandelsabkommen ist frustrierend. Das seit über zwanzig Jahren verhandelte Mercosur-Abkommen mit südamerikanischen Ländern sollte endlich abgeschlossen werden. Und in der nächsten Wahlperiode sollten die Handelsabkommen mit Indien und Indonesien oben auf unserer Prioritätenliste stehen. Was China angeht: Es geht nicht um Abkopplung, sondern die Risiken zu verringern. Als Handelspartner, etwa bei Autos, wird China relevant bleiben.

David McAllister im Gespräch mit Niklas Kleinwächter (links) | Foto: Lada

Lange: Wir müssen die einseitige Abhängigkeit etwa von China beenden. Ein Beispiel: Wir beziehen 70 Prozent des Lithiums, das etwa für Smartphones benötigt wird, aus China. Das muss nicht sein. In Chile etwa gibt es diese Stoffe auch. Zur Zeit haben wir mit 70 Ländern Handelsabkommen, und ich rechne schon mit baldigen Fortschritten. Da geht es etwa darum, ob australisches oder südamerikanisches Rindfleisch in die EU transportiert werden soll. Es soll aber gleichzeitig sichergestellt sein, dass die Rinder in ihrer Heimat nicht auf Flächen weiden, die vorher im Regenwald extra für sie abgeholzt wurden. Am Ende ist also die Überwachung und Kontrolle der Haltungsbedingungen wichtig – und das kann über moderne Technik gehen, etwa über Chips in Ohrmarken.

Rundblick: Täuscht der Eindruck, dass die Proteste gegen Freihandelsabkommen in der EU weniger geworden sind?

Lange: Nein, das ist tatsächlich so. Es gab vor Jahren etwa bei den Demonstrationen gegen das TTIP-Abkommen viele Motive, die im Spiel waren, auch eine Portion Anti-Amerikanismus. Diese symbolischen Einwände haben die Komplexität der Verträge nie richtig abgebildet. Proteste gegen TTIP oder Ceta – das ist heute vorbei. Viele Skeptiker von damals haben eingesehen, dass ihre Befürchtungen übertrieben waren.

McAllister: Bei diesen Abkommen sind Standards bei Arbeitsschutz, Umwelt- und Verbraucherschutz enorm wichtig, das möchte ich betonen. Zeitgleich müssen wir schauen, dass unsere Regulierungen die wirtschaftliche Attraktivität des Standorts Europa nicht minimieren. Ansonsten bestimmen andere den internationalen Markt. 

David McAllister (links) und Bernd Lange sprechen in der Rundblick-Redaktion über die aktuelle Lage in der EU. | Foto: Lada

Rundblick: Ein Wort zur Türkei: Diese Macht spielt weltpolitisch eine wichtige Rolle, wenn es etwa um die Flüchtlingsströme geht, aber auch um den Nahostkonflikt und das Verhältnis zu Russland. Erdogan hat erklärt, er wolle der Schutzpatron der muslimischen Welt sein. Kommt da eine neue Gefahr auf uns zu?

McAllister: Die Türkei ist unser Nachbar und wichtiger Handelspartner. Der Prozess der EU-Beitrittsverhandlungen liegt seit geraumer Zeit auf Eis. Solange sich an der Einschränkung von Oppositionsrechten, Justiz und Medienfreiheit in der Türkei nichts ändert, wird das auch so bleiben. Denkbar wäre eine Ausweitung der Zollunion. Allerdings muss klar sein: Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind auch hier unabdingbar. Darüber hinaus muss die Türkei endlich konstruktiv zur Klärung der Zypern-Frage beitragen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Nachbarstaaten nachkommen und deren territoriale Integrität anerkennen.


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Lange: Die Türkei hat als Vermittler, auch im Verhältnis Russlands zur Ukraine, an Statur gewonnen. Wir müssen Erdogan als Gesprächspartner ernst nehmen. Die Verfolgung von Minderheiten in der Türkei, etwa der Jesiden oder der Kurden, die gegen den IS gekämpft hatten, ist überhaupt nicht akzeptabel. Eine Zollunion, die den Handel mit großen Industriegütern vorsieht, halte ich für einen gangbaren Weg. Dabei sollten die strengen Beihilferegeln der EU teilweise ausgesetzt werden. Auf jeden Fall müssen wir mit der Türkei einen Weg zu guten Beziehungen finden und diesen dann pflegen.

Dieser Artikel erschien am 6.11.2023 in Ausgabe #191.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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